Violinsonaten, Klarinettensonaten (Violinfassung); „F. A. E.-Sonate“ von Albert Dietrich, Robert Schumann und Johannes Brahms

(Serie II, Band 8), hrsg. von Bernd Wiechert (Violinsonaten, Violinfassung der Klarinettensonaten) und Michael Struck („F. A. E.-Sonate“), München 2021

Innerhalb des kammermusikalischen Schaffens von Johannes Brahms bilden die drei Violinsonaten G-Dur op. 78 (erschienen 1879), A-Dur op. 100 (1887) und d-Moll op. 108 (1889) eine gewichtige, in sich geschlossene Werkgruppe. Seit ihrer Publikation gehören die drei Sonaten zu den meistgespielten Repräsentanten ihrer Gattung. Ungleich weniger bekannt sind dagegen die Fassungen für Violine und Klavier, die Brahms 1895 von seinen Klarinettensonaten Nr. 1 f-Moll und Nr. 2 Es-Dur op. 120 Nr. 1 und 2 erstellte und zum Druck brachte. Als die letzten Beiträge des Komponisten zur Kammermusik schlagen sie über mehr als vierzig Jahre einen Bogen zurück zu Brahms’ frühester nachzuweisender Duokomposition dieser Besetzung: der verschollenen Violinsonate a-Moll (Anh. IIa Nr. 8), die spätestens im Frühjahr 1853 komponiert vorlag. In dasselbe Jahr fiel auch die Entstehung der „F.A.E.-Sonate“, zu der Robert Schumann zwei Sätze sowie Albert Dietrich und Johannes Brahms je einen Satz beisteuerten.

Mit den genannten Werken vereinigt der vorgelegte JBG-Band drei originäre (Op. 78, 100, 108) und zwei abgeleitete, aber authentische Violinsonaten (Op. 120), ergänzt durch die „F.A.E.-Sonate“, die als Gemeinschaftskomposition mit satzübergreifenden motivischen Bezügen nur in ihrer Gesamtheit angemessen zu betrachten ist und daher im Anhang vollständig wiedergegeben wird.

Die durch Briefbelege dokumentierte verschollene Violinsonate a-Moll findet in einem eigenen Kapitel der Einleitung Berücksichtigung. Sie gehörte zu jenen Werken, die der zwanzigjährige Brahms im Herbst 1853 bei seinen ersten Besuchen im Hause Schumann in Düsseldorf präsentierte und die in Robert Schumanns legendärem Aufsatz „Neue Bahnen“ (Neue Zeitschrift für Musik, 28. Oktober 1853) Erwähnung fanden. Obwohl Brahms zeitweilig um die Publikation der Sonate bemüht war, fiel sie letztlich wohl der Selbstkritik des Komponisten zum Opfer.

Die rund ein Vierteljahrhundert später (1878/79) entstandene 1. Violinsonate op. 78 fand wegen ihrer motivisch-thematischen Rückbezüge zu Brahms’ Groth-Vertonung „Regenlied“ op. 59 Nr. 3 als „Regenlied-Sonate“ schon in Brahms’ Freundeskreis besondere Aufmerksamkeit. Mit dem Partiturautograph und den abschriftlichen Stichvorlagen von Partitur und Stimme sind alle entstehungsgeschichtlich und publikationsspezifisch entscheidenden Manuskriptquellen des Werkes vollständig erhalten; notwendige Eingriffe des Herausgebers in die Lesart der Hauptquelle (einer revidierten späteren Auflage der Partitur-Erstausgabe) beruhen daher fast ausnahmslos auf gesicherter Quellenstützung. Hierzu gehört die editorische Präzisierung einer von Brahms in den Stichvorlagen hinzugefügten zweiteiligen Tempomodifikation im 1. Satz (poco a poco più Sostenuto ab T. 105 sowie korrelierend poco a poco Tempo primo ab T. 154), die in der Erstausgabe missverständlich umgesetzt wurde und bis in die heutige Spielpraxis hinein zu Fehlinterpretationen verleitet. Ein weiteres Manuskript steht in einer speziellen emotionalen Verbindung zu Clara Schumann, der Brahms im Februar 1879 – noch vor Vollendung des dreisätzigen Werkes – die ersten 24 Takte des Mittelsatzes in Gestalt eines autographen Schmuckblattes als Zeichen seines Mitgefühls zuschickte, da ihr jüngster Sohn Felix, Brahms’ Patenkind, im Sterben lag.

Editorisch weit weniger ergiebig ist die Quellenlage bei den Violinsonaten Nr. 2 op. 100 und Nr. 3 op. 108. Zu diesen Werken ist überhaupt nur eine einzige Manuskriptquelle erhalten: das Partiturautograph des 1. Satzes der Sonate op. 100 (zudem unvollständig überliefert, die letzten 12 Takte fehlen). Für alle übrigen Sätze der beiden Kompositionen konnte der Notentext weithin nur textkritisch aufgrund von interner Stimmigkeit beurteilt und revidiert werden.

Eine besondere Quellenlage ist auch für die Violinfassung der beiden Klarinettensonaten op. 120 gegeben, da die Stichvorlage zu diesen Bearbeitungen jeweils auf einem Vorabzug der originalen Klarinettenfassung beruhte, deren Notentext Brahms durch handschriftliche Änderungen und Beiblatt-Zusätze zur Violinfassung umbildete. Da die hierzu benutzten Abzüge noch nicht vollständig der durchkorrigierten, definitiven Druckfassung der Originalausgabe entsprachen, enthielten schon die Stichvorlagen zur Violinfassung manche Fehler und Ungenauigkeiten, zu denen beim (erneuten) Stich noch weitere hinzukamen. Um Defizite der Erstausgabe der jeweiligen Violinfassung aufzudecken und zu beurteilen, erwies es sich als unumgänglich, die handschriftlichen Quellen der entsprechenden Originalfassung – in erster Linie Partiturautograph und Partiturabschrift – für das editorische Vorgehen mit heranzuziehen.

Die in der zweiten Oktoberhälfte 1853 von Albert Dietrich (1. Satz), Robert Schumann (2., 4. Satz) und Johannes Brahms (3. Satz) für den gemeinsamen Künstlerfreund Joseph Joachim komponierte „F.A.E.-Sonate“ entstand auf Anregung Schumanns. Dieser hatte die Idee von Gemeinschaftskompositionen schon in den 1830er Jahren formuliert und 1840 zusammen mit seiner Frau Clara auch realisiert („Zwölf Gedichte aus F. Rückerts Liebesfrühling von Robert und Clara Schumann“ mit doppelter Werkzählung als op. 37 bzw. op. 12). Die Sonate verblieb nicht zuletzt deshalb jahrzehntelang im Status eines privaten Geschenkwerkes, weil Schumann unmittelbar nach deren Fertigstellung die eigenen beiden Sätze in seine 3. Violinsonate (WoO 2) übernahm: Erst 1906 wurde Brahms’ scherzoartiges Allegro als „Sonatensatz“ posthum veröffentlicht, die gesamte Sonate sogar erst 1935. Von den drei nachweislich angefertigten authentischen Quellen sind nur zwei erhalten: das Partiturautograph der drei Komponisten (Tri-Autograph) sowie eine von Schumanns Düsseldorfer Hauptkopisten Peter Fuchs angefertigte Violinstimme; letztere enthält im 2. und 4. Satz Zusätze und (teilweise erhebliche) kompositorische Änderungen von Schumanns Hand. Verschollen ist dagegen eine zuletzt 1956 nachgewiesene Partiturabschrift, die sicherlich ebenfalls von Fuchs geschrieben wurde. Sie dürfte – wie die erhaltene Stimmenabschrift – in Schumanns Finalsatz durch nachträgliche Eingriffe den letztgültigen Textstatus wiedergegeben haben. Dagegen repräsentiert das Tri-Autograph zumindest für die Violinpartie und vielleicht auch für die Klavierpartie des Finales in den genannten Fällen nur das vorletzte Textstadium. Im Rahmen der Neuedition konnte neben der Rezeptionsgeschichte der Sonate die Schreibchronologie der unter größtem Zeitdruck niedergeschriebenen Manuskriptquellen genauer als in bisherigen Forschungen erfasst werden; denn Dietrichs und Schumanns Ecksätze waren bei der Übergabe des Tri-Autographs an den Kopisten zwar kompositorisch abgeschlossen, aber noch nicht vollständig niedergeschrieben worden. Der Kopist war daher, wie teils direkt, teils indirekt belegt werden konnte, angewiesen worden, bestimmte Teile der Reprise gemäß den entsprechenden Expositionstakten auszuschreiben (die er teilweise zugleich transponieren musste). Erst nach Anfertigung der Abschriften, die auch für eine erste Wiedergabe benötigt wurden, vervollständigten beide Komponisten im Tri-Autograph die betreffenden Reprisenbereiche, wie die quellen- und textkritische Auswertung der beiden überlieferten Manuskripte eindeutig ergab. Erst danach konnte das Tri-Autograph als repräsentative Geschenkhandschrift von Dietrich im Namen der drei Komponisten an Joachim geschickt werden. Aus einer solchen Konstellation ließen sich editionsmethodische Konsequenzen ziehen, die in bestimmtem Maße zu abweichenden Lesartentscheidungen gegenüber früheren Ausgaben der „F.A.E.-Sonate“ und des Brahms’schen Scherzosatzes führen. Darüber hinaus dokumentiert der Editionsbericht des Bandes insbesondere für Brahmsʼ Scherzosatz und Schumanns Finale eingehend frühere werkgenetische Stadien.

Rezensionen

Wie man es von Henle-Notenausgaben gewohnt ist, erscheint der Notensatz transparent und gut strukturiert. Neben den Ausführungen im Kritischen Bericht enthält der Notentext diverse Fußnoten mit wichtigen quellenkritischen Anmerkungen nebst präzisen Querverweisen auf den Editionsbericht. Dem Nutzer stehen diese wichtigen Informationen somit unmittelbar beim Studium des Notentextes zur Verfügung.

Aufgrund des Umfangs des herangezogenen Quellenmaterials und dessen akribischer Auswertung erfüllt und übertrifft der vorliegende Band alle Wünsche an eine wissenschaftlich-kritische Ausgabe. Ohne jeden Zweifel bildet der Band einen epochalen wie vorbildlichen Beitrag zur Brahms-Forschung und trägt damit nicht zuletzt dem einer Gesamtausgabe stets auch innewohnenden Denkmalcharakter in jeder Hinsicht Rechnung.

Bernd Wladika (in: Die Tonkunst 16/3, Juli 2022, S. 393 f.)

With this groundbreaking addition to the ongoing Johannes Brahms Neue Ausgabe sämtlicher Werke […] Henle has unquestionably put forward a treasure for Brahms lovers and scholars. Presenting these works all together makes this JBG volume a fantastic resource for those who wish to study the works and their rich textual and critical contexts as well as their geneses and compositional processes side by side. The introduction offers new insights, contexts, and updated readings, while the detailed critical commentary points to the high textual standards of the edition.

[…] on the whole this remarkable volume is based on extensive research and allows engaged readers and performers to approach Brahms’s works for violin and piano with a rich factual foundation. The volume offers an update in comparison to previous editions and represents a milestone for scholarship on Brahms’s violin sonatas and the FAE Sonata.

Katharina Uhde (in: The American Brahms Society: Newsletter 40/2, Herbst 2022, S. 8–10)