Triumphlied op. 55

(Serie V, Band 5), hrsg. von Johannes Behr und Ulrich Tadday, München 2020

Als erster Band der Serie V (Chorwerke) wurde im Jahr 2020 die Edition des Triumphliedes op. 55 vorgelegt. Der Band enthält sowohl die im November 1872 bei N. Simrock in Berlin erschienene dreisätzige Endfassung des Werkes als auch eine Frühfassung des 1. Satzes, die bereits am 7. April 1871 in Bremen unter Leitung des Komponisten erklungen war. Die abschriftlichen bzw. autographierten Orchester- und Chorstimmen zu dieser Aufführung blieben im Archiv der Bremer Philharmonischen Gesellschaft erhalten und wurden dort 2012 von Katrin Bock und Ulrich Tadday entdeckt. Schon die von den beiden Findern erstellte vorläufige Partitur, auf deren Grundlage eine erste Wiederaufführung im Eröffnungskonzert des Schleswig-Holstein Musik Festivals 2014 stattfand, ließ erkennen, dass sich die Frühfassung des 1. Satzes nicht nur im Umfang (190 statt 206 Takte), in der Tonart (C-Dur statt D-Dur) und in der Besetzung (ohne Kontrafagott und Tuba), sondern auch in zahlreichen Details der kompositorischen Faktur von der späteren Druckfassung unterscheidet. Die nunmehr von Ulrich Tadday im Anhang des JBG-Bandes vorgelegte Edition lädt die Musikforschung und -praxis dazu ein, die wiederentdeckte Frühfassung im Vergleich mit der Endfassung oder als eigenständige ‚Bremer Fassung‘ näher kennenzulernen.

Auch das dreisätzige Triumphlied selbst harrt gewissermaßen einer Wiederentdeckung, ist es doch seit Jahrzehnten eines der am seltensten aufgeführten Werke von Brahms überhaupt. Ihren Grund hat die Zurückhaltung der Konzertveranstalter in den politischen Konnotationen des Stücks, zu dessen Komposition sich Brahms vom deutsch-französischen Krieg 1870/71 und der damit einhergehenden Gründung des Deutschen Kaiserreiches hatte anregen lassen. Das Werk knüpfte damit an die von Händels Dettinger Te Deum exemplarisch verkörperte Tradition des Te Deums zur Feier eines militärischen Sieges an und ist denn auch von zeitgenössischen Rezensenten als „Deutsches Te Deum“ (in Analogie zum Deutschen Requiem op. 45) bezeichnet worden. Schon bald aber löste sich das Triumphlied von seinem Entstehungsanlass und wurde bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein überwiegend in gewöhnlichen Abonnementskonzerten, in großen Musikfest-Konzerten und in Konzerten zu verschiedenen feierlichen Gelegenheiten (wie Jubiläen von Chorvereinen, Verabschiedungen von Dirigenten etc.) aufgeführt. Unter 94 ermittelten Aufführungen des Werkes zwischen 1871 und 1933, die das entsprechende Einleitungskapitel vollständig auflistet, wurden nur vier ausdrücklich mit der Erinnerung an den Krieg oder die Reichsgründung verbunden. 1933 erklang das Triumphlied fünfmal in Konzerten zum 100. Geburtstag von Brahms; danach fanden bis 1945 keine Aufführungen mehr statt, sodass von einer nationalsozialistischen Vereinnahmung keine Rede sein kann. Dennoch wurde das Werk nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund seines deutsch-patriotischen Entstehungshintergrundes (es erschien 1872 mit Widmung an Kaiser Wilhelm I.) als ‚belastet‘ empfunden und im Konzertleben weitgehend gemieden. Zur negativen Beurteilung trug sicherlich bei, dass man lange glaubte, Brahms habe den Titel „Triumphlied“ ursprünglich mit dem martialischen Zusatz „auf den Sieg der deutschen Waffen“ versehen wollen. Wie sich nun zeigen ließ, stammte diese Wendung nicht von Brahms, sondern wurde vom Musikschriftsteller Franz Gehring als journalistische Umschreibung des Entstehungsanlasses in die Literatur eingeführt und von späteren Autoren als vermeintlicher Titelzusatz missverstanden. Die Einleitung des Bandes enthält außerdem eine detaillierte Rekonstruktion des Widmungsvorgangs (anhand von Quellen, die Bernd Wiechert im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz ausfindig machen konnte) und eine (vom Mitherausgeber Ulrich Tadday verfasste) differenzierte Darstellung der zeitgenössischen Rezeption.