(Serie IA, Band 1), hrsg. von Robert Pascall, München 2008
Der vorliegende Band ist die erste Edition mit Brahms’ Klavierreduktionen eigener Werke im Rahmen der JBG. Zu solchen Reduktionen gehören Klavierauszüge und Klavierarrangements, die von der JBG mit Bezug auf Margit McCorkles thematisch-bibliographisches Werkverzeichnis (München 1984) unter satztechnischen Gesichtspunkten terminologisch plausibel systematisiert wurden (während im 19. Jahrhundert relativ unsystematisch von »Clavierauszug«, »Arrangement«, »Bearbeitung« oder »Ausgabe mit Pianoforte« gesprochen wurde oder unspezifische Angaben erfolgten wie »für zwei Pianoforte«, »für das Pianoforte zu vier Händen«). Im Gegensatz zu Klavierauszügen von Konzerten oder Werken für Gesang und Orchester, die nur den Orchestersatz in einen zweihändigen Klaviersatz mit übergedruckten Solo- bzw. Chorstimmen überführten, wurde in den Klavierarrangements, die Brahms insbesondere von fast allen Orchesterwerken sowie einem Teil seiner Kammermusik anfertigte, der gesamte musikalische Satz (ggf. einschließlich der Vokal- und instrumentalen Solopartien) in einem vierhändigen Satz für ein oder zwei Klavier(e) zusammengefasst. (Zwei- und achthändige Arrangements überließ Brahms durchweg fremden Bearbeitern; Gleiches gilt für vierhändige Arrangements der Klaviertrios und Duosonaten).
Arrangements und Klavierauszüge trugen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wesentlich zur Verbreitung von Brahms’ Musik bei. Sie boten Musikfreunden und Musikern die einzige Möglichkeit, die betreffenden Werke außerhalb des Konzertsaals nach Belieben zumindest in klanglich reduzierter Gestalt zu realisieren. Sie waren aber nicht nur ein wesentlicher Faktor bei der Rezeption von Brahms’ Musik, sondern auch bei der Verlagskalkulation, wenn es um den Druck Brahms’scher Werke ging. So verwundert es nicht, dass gerade Arrangements mit Aufkommen von Schallplatte und Rundfunk immens an Bedeutung verloren; erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts gewannen sie bei Interpreten und Forschern erneut an (nunmehr dezidiert künstlerisch bzw. historisch motiviertem) Interesse. Klavierauszüge wurden und werden dagegen weiterhin zum Einstudieren sowie bei der musikalischen Ausbildung und bei Wettbewerben benutzt. Allerdings berücksichtigte die 26-bändige alte Brahms-Gesamtausgabe (Johannes Brahms: Sämtliche Werke, Leipzig 1926/27) weder die vierhändigen Arrangements noch die Klavierauszüge, so dass dieses Präsenzmedium Brahms’scher Musik völlig ausgeblendet blieb.
Zwar galten Arrangements und Klavierauszüge zu Brahms’ Zeit zweifellos als Surrogate der Hauptfassungen, doch investierte Brahms ein großes Maß an satztechnischer Kreativität in seine Klavierreduktionen, die er im Zweifelsfall nicht als wörtliche, sondern als sinngemäße pianistische Umsetzung der Hauptfassungen konzipierte. Obwohl die Arrangements erst nach der Niederschrift der primären Werkgestalt entstanden, erschienen einige von ihnen bereits vor der Hauptfassung im Druck. Prinzipiell hatten Arrangements und Klavierauszüge zu Brahms’ Lebzeiten keine öffentliche Funktion. Falls sie vereinzelt doch öffentlich oder halböffentlich gespielt wurden, handelte es sich stets um funktionell klar definierte Ausnahmen.
Die JBG gibt in ihren historisch-kritischen Editionen Brahms’ Arrangements für ein Klavier zu vier Händen in Partiturgestalt wieder (Primo über Secondo), hebt also die seit den Erstausgaben gebräuchliche Links-/Rechts-Teilung von Secondo- und Primo-Partie auf gegenüberliegenden Seiten auf. Zwar bedeutet dies bei Arrangements, die zu Brahms’ Lebzeiten im Druck erschienen, eine Abweichung von der jeweiligen Hauptquelle, doch ermöglicht die Partituranordnung zum ersten Mal eine adäquate wissenschaftliche Nutzbarkeit gedruckter Arrangements. Zudem entspricht die Partituranordnung der JBG-Editionen in der Regel Brahms’ eigenhändiger Niederschrift von Arrangements. (Die aus der JBG abgeleiteten Spielausgaben werden dagegen aus praktischen Gründen zu einer stimmenmäßigen Anlage zurückkehren.)
Im Hinblick auf ihre Publikation stehen die Arrangements der Symphonien Nr. 1 und 2 für ein Klavier zu vier Händen in unterschiedlicher Zeitrelation zur jeweiligen Hauptfassung und divergieren auch in der Textüberlieferung. Das Arrangement der 1. Symphonie c-Moll op. 68 erschien im gleichen Monat wie Partitur und Orchesterstimmen im Druck, wobei als Stichvorlage Brahms’ Autograph diente. Divergenzen zwischen autographer Stichvorlage und Erstdruck resultieren hier entweder aus unentdeckten Stecherfehlern oder aus Änderungen des Komponisten in der Phase des Korrekturlesens. Spätere Auflagen der Erstausgabe erhalten nur zwei Änderungen, von denen die eine auf Brahms’ (auch für Partitur und Stimmen gültige) Änderung einer Tempoangabe, die andere auf eine irrtümliche redaktionelle Änderung zurückgeht, die sicherlich ohne Brahms’ Wissen erfolgte.
Komplexer ist die philologisch-editorische Situation beim Arrangement der 2. Symphonie. Hier war neben Brahms’ Autograph (Partituranordnung) auch noch die stimmenmäßig angelegte Abschrift zweier Kopisten (1.–3. Satz; 4. Satz) auszuwerten. Diese Abschrift war aufgrund von Kopistenungenauigkeiten und -fehlern auch für bestimmte Detaildivergenzen der Erstausgabe zwischen Primo- und Secondo-Partie mitverantwortlich. Darüber hinaus zeigte sich bei der editorischen Arbeit, dass ein in McCorkles Brahms-Werkverzeichnis (S. 312) als »Korrekturabzug zur Erstausgabe« rubriziertes Druckexemplar kein direkt druckrelevanter »Korrekturabzug« war, sondern das bei Brahms verbliebene Schwesterexemplar des an Verlag bzw. Stecherei zurückgesandten (verschollenen) Korrekturabzuges. Brahms dokumentierte in seinem Vorabzug nicht nur Ergebnisse der ersten Korrekturphase, sondern auch spätere Phasen des Korrekturprozesses (wobei es im Einzelfall auch zur Rücknahme früherer Änderungen kam). Weicht der Vorabzug im gestochenen Notentext einerseits bereits von Lesarten der abschriftlichen Stichvorlage ab, so divergiert er andererseits noch erheblich vom Erstdruck des Arrangements. So ist dieses Exemplar für das Verständnis Brahms’scher Korrekturprozesse außerordentlich bedeutsam und wird im Kritischen Bericht der Edition eingehend erörtert. Die Komplexität der Quellen- und Werktextüberlieferung resultiert aber auch daraus, dass der eigentliche Erstdruck in drei verschiedenen Ausprägungen des Notentext-Status überliefert ist: Der 1. Status wurde anlässlich der Aufführung der 2. Symphonie durch Joseph Joachim am 10. Juni 1878 beim 55. Niederrheinischen Musikfest in Düsseldorf angefertigt. Der weiter revidierte 2. Status muss zwischen dem 27. Juni und dem 5. Juli 1878, der 3. Status nach dem 5. Juli zum Druck gekommen sein. Bestimmungskriterien sind insbesondere die erst im 3. Status definitiv festgelegten Tempoangaben zum 3. Satz.
Die quellen- und textkritische Arbeit sowie die Rekonstruktion der Entstehungs-, Publikations- und Korrekturgeschichte führte im Notentext beider Arrangements zu zahlreichen editorischen Eingriffen, durch die der Herausgeber Fehler und Ungenauigkeiten der jeweiligen Hauptquelle (1. Symphonie: korrigierte spätere Auflage der Erstausgabe; 2. Symphonie: Erstdruck, 3. Status) richtigstellen konnte. Wichtige Referenzquellen waren für das Arrangement der 1. Symphonie hauptsächlich die autographe Stichvorlage, für das Arrangement der 2. Symphonie die autographe Niederschrift und die abschriftliche Stichvorlage. Für das Arrangement der 2. Symphonie waren zudem die komplexen Beziehungen zwischen dem Vorabzug sowie dem 1. und 2. Status des Erstdruckes editorisch bedeutsam. Der Editionsbericht dokumentiert darüber hinaus Brahms’ kompositorisch bzw. satztechnisch relevante Korrekturen. Diese waren teilweise auch spielpraktisch motiviert (Vermeidung von Kollisionen, d. h. Benutzung der gleichen Taste durch Primo und Secondo bzw. rechte und linke Hand eines Spielers).
Ausgespart bleiben in dieser Edition die handschriftlichen und gedruckten Quellen der orchestralen Hauptfassung, da Brahms beim Arrangieren, wie erwähnt, oft ausgesprochen frei verfuhr, um eine adäquate klangliche Umsetzung ins Medium des vierhändigen Klaviersatzes zu erreichen.
Rezension
Dass diese bemerkenswerten ›Übersetzungen‹ nicht länger im Verborgenen schlummern, ist das Verdienst des renommierten Brahms-Experten Robert Pascall, mittlerweile emeritierter Professor der »School of Music« der Universität Bangor (Wales), der sie im Rahmen der neuen Brahms-Gesamtausgabe in mustergültiger Form vorlegte. Zuvor edierte Pascall bereits die Orchesterfassungen beider Symphonien, die zweite gemeinsam mit Michael Struck. […]
Das Vorwort […] verweist darauf, dass Brahms auch von anderen seiner Werke alternative, gleichberechtigte Klavierfassungen erarbeitete, die mehr sind als bloße Arrangements. Genannt wird das Klavierquintett op. 34, das auch als großartige Sonate für zwei Klaviere existiert, außerdem die Haydn-Variationen op. 56a, die ebenfalls in einer Zweitfassung für zwei Klaviere vorliegen. Anhand von Brahms’ Korrespondenz wird ein Einblick in die Entstehung dieser Fassungen gegeben, der zugleich deutlich macht, mit welcher Hingabe Brahms sie erarbeitete. Daneben machen Abbildungen der herangezogenen Quellen sowie ein umfangreicher kritischer Bericht die Arbeit des Herausgebers transparent und nachvollziehbar. Es wäre zu wünschen, dass diese Berichte generell in den jeweiligen Ausgaben zu finden sind und nicht später als separates Heft erscheinen. Die Brahms-Gesamtausgabe ist von Anfang an so verfahren, was mit zu ihrer hohen Wertschätzung bei Musikern wie auch Musikwissenschaftlern beiträgt.
Sehr zu begrüßen ist auch die Entscheidung, den Notentext in Partitur anzuordnen. Wer sich schon einmal mit vierhändiger Klaviermusik befasste, weiß, wovon die Rede ist. Normalerweise wird der Notentext auf die beiden gegenüberliegenden Seiten aufgeteilt, so dass jeder der beiden Spieler seine eigene Stimme direkt vor Augen hat. Auf der linken Seite findet man die Stimme des Secondo-Parts, rechts die Stimme des Primo-Parts. Für die Spieler ist das sehr bequem, macht aber ein Studium oder gar eine Analyse zu einer mühsamen Angelegenheit. Vierhändige Klaviermusik war lange Zeit das einzige Genre, das quasi partiturlos blieb. Wer sich näher mit einem solchen Werk befassen wollte, musste selbst die Stimmen spartieren. Diese umständliche Prozedur bleibt einem hier dankenswerterweise erspart. Man sieht auf den ersten Blick, wie Brahms vorgegangen ist, wo er änderte, was er fortließ oder auch ergänzte.
Wie bei fast allen Ausgaben des Henle-Verlags erfüllt der Notensatz höchste ästhetische Ansprüche. […]
Klaus Martin Kopitz, in: Die Tonkunst, Jg. 4, Nr. 1 (Januar 2010), S. 129–130