Ein deutsches Requiem op. 45

(Serie V, Band 2), hrsg. von Michael Musgrave und Michael Struck, München 2022

„Ein deutsches Requiem“, das Johannes Brahms auf der Grundlage selbst zusammengestellter Bibeltexte komponierte, ist nicht nur ein zentrales Werk seines Œuvres, sondern auch das umfang­reichste. Zusammen mit den „Ungarischen Tänzen“ trug es ab Ende der 1860er Jahre maßgeblich zum nationalen und internationalen Durchbruch des Komponisten bei.

Eine Edition des „Deutschen Requiems“ zwingt die Herausgeber in verschiedener Hinsicht zu besonderen Differenzierungen. So muss werkgenetisch und aufführungshistorisch zwischen der zunächst gültigen sechssätzigen und der definitiven siebensätzigen Werkgestalt unterschieden werden und infolgedessen zwischen drei bzw. vier Uraufführungsphasen im Dezember 1867 (Sätze 1–3, Wien), April 1868 (sechs Sätze, Bremen), Januar 1869 (Privataufführung im Klavier­auszug, sieben Sätze, Dessau) und Februar 1869 (sieben Sätze, Leipzig). Nachdem das Werk zwischen Oktober 1868 und Mai 1869 in Partitur, Stimmen, Klavierauszug und vierhändigem Arrangement erschienen war, veranlasste Brahms bereits im Juni 1869 eine nachträgliche kompo­sitorische Änderung; 1894 zog er die bis dahin gültigen Metronomzahlen zurück. Als Hauptquelle der Neuedition diente demzufolge ein Exemplar der frühesten nachweisbaren Partiturauflage ohne Metronomzahlen, die erst auf die Zeit nach Brahmsʼ Tod zu datieren ist.

Differenzierter Erörterung bedürfen auch die vier Besetzungsvarianten der Hauptgestalt mit Orchester: Neben zwei offiziellen Fassungen – mit und ohne Orgel gemäß der entsprechenden Angabe „(Orgel ad libitum)“ im Werktitel – gibt es zwei nachweislich auf Brahms zurückgehende Besetzungsvarianten mit Kontrafagott; dieses kann einerseits das Fehlen einer Orgel kompen­sieren (was Brahms auch befreundeten Dirigenten riet), andererseits zusammen mit der Orgel eingesetzt werden. Der Gesamtausgaben-Band gibt demzufolge die Orgelpartie in kleinerem Stich wieder, während die ‚semioffizielle‘, von Brahms nie im Druck veröffentlichte, doch bei einigen Wiener Aufführungen benutzte Kontrafagottpartie allein durch verbale Zuordnung zu den Partien von Violoncello und/oder Kontrabass kenntlich gemacht wird, von denen sie abgeleitet ist.

Die Herausgeber konnten auf einen umfangreichen Bestand an Manuskript- und Druckquellen zurückgreifen. Deren Auswertung eröffnete zahlreiche Einblicke in Brahmsʼ kompositorische Arbeit und bildete zugleich die Grundlage für zahlreiche editorische Eingriffe in den Notentext der Hauptquelle. Die herangezogenen Auflagen der Partitur, der Stimmen, beider zu Brahmsʼ Leb­zeiten erschienenen deutschsprachigen Klavierauszug-Ausgaben unterschiedlichen Formats und des vierhändigen Klavierarrangements konnten durch die Kalkulationsbücher des Original­verlages J. Rieter-Biedermann (Sächsisches Staatsarchiv, Leipzig) und mithilfe von Wasser­zeichen-Datierungen chronologisch näher differenziert werden. Die offensichtlich ohne Brahmsʼ Einbeziehung publizierten englisch- und französischsprachigen Ausgaben wurden nur peripher berücksichtigt, während die Kapitel zur frühen Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte des Werkes auch Aufführungen im europäischen und außereuropäischen Ausland einbeziehen.

Folgende Erkenntnisse der Neuausgabe seien genannt:

1. Im Zuge der editorischen Arbeit wurden zwei bisher unbekannte Werkquellen entdeckt: a. Im Brahms-Institut Lübeck fand sich in der Stichvorlage des Klavierauszuges auf der Rückseite zweier autographer Tekturen eine aufschlussreiche, nur rudimentär erhaltene Partitur- oder Particellskizze zum 1. Satz, die noch merklich von der Endfassung abweicht. Sie umfasst den ersten Choreinsatz samt einigen angedeuteten orchestralen Takten. b. Nachgewiesen werden konnte jetzt zudem, dass der seit Langem bekannten abschriftlichen Kontrafagottstimme aus dem Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien ein von Brahms mit Bleistift annotiertes Exemplar der gedruckten Doppelstimme von Cello/Kontrabass aus dem alten Plattendruck-Orchesterstimmensatz des gleichen Archivs als Vorlage diente.

2. Rückgängig gemacht wurde die editorische Fehlentscheidung der alten Brahms-Gesamtausgabe (Sämtliche Werke, Bd. 17, Breitkopf & Härtel, Leipzig 1926), in den Anfangsteilen der Sätze 2 und 6 sowie im 5. Satz außer den Violinen auch die Bratschen mit Dämpfern spielen zu lassen. Veranlasst durch eine kleine Brahms’sche Bezeichnungsinkonsequenz im 2. Satz hatte der damalige Herausgeber Eusebius Mandyczewski in allen drei Sätzen die Bratschenpartie mit Dämpferanweisung versehen; diese klangliche Verfälschung fand durch die aus der alten Gesamtausgabe abgeleitete praktische Ausgabe (Leipzig 1928) und hierauf fußende spätere Editionen weltweit Verbreitung.

3. Zu Beginn des 6. Satzes wurde die seit der Erstveröffentlichung gültige Lesart „[Denn wir haben hie keine] bleibende Statt“ zu „bleibende Stadt“ (Hebräer 13,14) geändert, was auf das in Hebräer 12,22 genannte „himmlische Jerusalem“ bezogen ist. Das entspricht der von Brahms verwendeten, an dieser Stelle bis heute unveränderten Luther-Übersetzung analog dem griechischen Urtext und bildete auch das Grundnotat der erhaltenen autographen und abschrift­lichen Manuskripte von Partitur, Klavierauszug und Chorstimmen. Aus textgenetisch nicht eindeutig zu rekonstruierenden Gründen führte das Programmheft zur Bremer Uraufführung der sechssätzigen Fassung die orthographisch und inhaltlich abweichende Lesart „Statt“ ein, die Brahmsʼ Verleger Jakob Melchior Rieter-Biedermann in die Stichvorlagen übertrug und somit für den Druck verbindlich machte. Die editorische Änderung zur bibelkonformen Lesart „Stadt“ erfolgte nach intensiver musikphilologischer und theologischer Abwägung gemäß den geschilderten Quellenbefunden.

4. Die Einleitung erörtert die Entstehung, Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte sowie die Publikation des „Deutschen Requiems“ eingehend und setzt sich dabei kritisch mit bestimmten Topoi der Brahms-Literatur zu Entstehungshintergrund und ‑chronologie auseinander. Diese gehen z. T. auf Spekulationen des Brahms-Biographen Max Kalbeck zurück und halten einer philologischen Evaluation vielfach nicht stand.