Was der Sylter Komponist Jenner bei Brahms lernte

Von Sylt über Kiel nach Wien: Die alte Freundschafts-Achse zwischen zwei Norddeutschen – dem Dichter Klaus Groth (Kiel) und dem Komponisten Johannes Brahms (Wien) – bot dem jungen Gustav Jenner die große Chance: Groths Fürsprache sorgte dafür, dass Brahms Interesse an dem 1865 in Keitum geborenen Nachwuchsmusiker gewann. Als Jenner ihm Anfang 1888 in Leipzig einige Werke zeigte, hielt Brahms mit Kritik zwar nicht hinterm Berg, zumal er fand, der 22-jährige habe musikalisch noch zu wenig gelernt. Doch er erbot sich, ihm zu „nützen“. Und so konnte Jenner in Wien bei Eusebius Mandyczewski Kontrapunkt studieren und durfte Brahms einige Jahre lang seine neuen Kompositionen zur kritischen Begutachtung vorlegen.

Jenner wurde ein angesehener Komponist und Dirigent; 1895 ging er als Akademischer Musikdirektor nach Marburg. Johannes Behr, seit Herbst 2006 am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Kiel in Kooperation mit der Brahms-Forschungsstelle tätig, stellt den Fall Jenner ins Zentrum seiner sehr lesenswerten, für Musikfreunde gut lesbaren Dissertation. Erstmals wird hier ein wichtiger Komplex von Brahms’ Wirken systematisch erforscht: Brahms als kompositorischer Ratgeber und Kritiker für Freunde, Brahms als öffentliche Person, die von jungen Talenten zur Beurteilung ihres Schaffens oder schlicht als „Meister“ aufgesucht wurde, Brahms als Gutachter und Preisrichter und schließlich – und das gilt streng genommen eben doch nur mit Blick auf den Norddeutschen Jenner – als eine Art Kompositionslehrer. Behr wartet mit unbekannten Materialien auf, die den Menschen und Musiker Brahms in ein klareres Licht rücken.

Behr gelingt ein Kunststück: Anhand persönlicher Aufzeichnungen Jenners und durch den Vergleich früher und späterer Fassungen dreier Werke zeigt er, wie sich Brahms’ Kritik bei Jenner in zunehmend professionellerem Komponieren im Sinne des „Lehrers“ niederschlug. Das Resümee des Buches muss man als Leser selbst ziehen (Behr selbst liefert keines): Brahms war ein harter, doch ehrlicher und zielbewusster Pädagoge. Die Palette seiner Reaktionen auf die Musik Jüngerer war vielfältiger, als man bisher glaubte. Brahms’ Hauptziele waren dabei: Stärkung der kompositionshandwerklichen Kompetenz und Hilfe zur künstlerischen Selbsthilfe. Für Brahms- und Jenner-Liebhaber ist Behrs Buch ein Muss!

Kieler Nachrichten vom 5. März 2008, S. 18 (Autor: Michael Struck)