Wissenschaft und Aufführungspraxis in Einklang: Kirchenmusikdirektor Volkmar Zehner nutzt die Chance, sich im Musikwissenschaftlichen Institut der Kieler Universität über den neuesten Forschungsstand in Sachen Ein Deutsches Requiem von Johannes Brahms zu informieren, das er am Sonntagnachmittag (schon um 16 Uhr) in der Kieler Nikolaikirche aufführen will. Für die Brahms-Forschungsstelle arbeitet Dr. Michael Struck derzeit gemeinsam mit dem britischen Kollegen Michael Musgrave an einer Neuausgabe des berühmten chorsinfonischen Meisterwerkes.
Gerne weist er den Kirchenmusiker darauf hin, dass der Komponist die – in vielen Schallplatteneinspielungen oft so lastend verschleppten – Tempi der aufeinander bezogenen Rahmensätze vermutlich wesentlich zügiger gewünscht hat. Dafür sprechen eliminierte Metronom-Angaben und die Notiz des frühen Brahms-Dirigenten Theodor Müller-Reuter, die eine Aufführungsdauer von nur 75 Minuten annimmt.
Struck hat noch diverse Hinweise im Detail zu bieten, die in üblichen Notentexten falsch wiedergegeben sind. Manchmal mit klanglichen Auswirkungen: So ist jetzt klar, dass Brahms an mehreren Stellen ausschließlich die Violinen, nicht aber die Bratschen gedämpft hören wollte. Auch die Grundierung mit einer Orgel „ad libitum“ könnte ihren Reiz haben. Die Suche nach solchen Hinweisen nimmt manchmal detektivische Züge an. Im Lübecker Brahms-Institut lagert ein Klavierauszug von Kopistenhand, der Überklebung von Passagen aufweist. Struck regte die vorsichtige Ablösung der Siegellack-Verbindungen an. Darunter finden sich tatsächlich Vorversionen der Brahmsschen Ideen. Beispielsweise lief ursprünglich der pochende Bass-Puls im ersten Satz durch. Erst später entschied er sich für den A-cappella-Einsatz des Chores.
Kieler Nachrichten vom 20. November 2015, Autor: Christian Strehk