Pußtakinder, Barockperücke und Daumenschrauben. Ein neuer Band der Kieler Brahms-Gesamtausgabe

Besonders bunt ist das neueste Produkt der Kieler Johannes-Brahms-Gesamtausgabe. Nicht äußerlich – da gleichen die hellgrau gebundenen Klavierwerke ohne Opuszahl ihren Vorgänger-Editionen. Doch während die bisherigen Bände ein bis maximal drei Werke umfassten, kommt diesmal Unterschiedliches zusammen: Die ersten zehn ungarischen Tänze, die in der vierhändigen Hausmusik-Fassung wesentlich zu Brahms’ Popularität beitrugen, erscheinen hier in hochvirtuoser zweihändiger Gestalt. „Mit Milch und Brot“ habe er diese „Pusztakinder“ aufgezogen, meinte Brahms liebevoll. Dagegen sollten auf dem Titelblatt der 51 Übungen für Klavier am besten Daumenschrauben und andere Folterinstrumente abgebildet werden, spöttelte er. In Wahrheit sind die Fingerübungen der Schlüssel zu Brahms’ Klaviertechnik. Alle weiteren Stücke des Bandes blieben zu Lebzeiten des Komponisten unveröffentlicht – etwa die Sarabanden, Gavotten und Giguen, die den jungen Genius in der Schule alter Meister zeigen: Brahms mit Barockperücke.

Wie Redakteurin Dr. Katrin Eich von der Kieler Brahms-Forschungsstelle erläutert, sind die Stücke in dieser Ausgabe erstmals nach Tonarten geordnet. Nur so wird deutlich, dass sie zu zwei Suiten in a- und h-Moll gehörten, die unvollendet blieben. Reizvoll sind auch einige Solokadenzen zu Klavierkonzerten Bachs, Mozarts und Beethovens. Vergeblich sucht man in der neuen Brahms-Ausgabe die Kadenz zu Beethovens c-Moll-Konzert, die die alte Gesamtausgabe von 1926/27 noch für echten Brahms hielt. Sie stammt, wie man heute weiß, von Ignaz Moscheles.

Ganz am Ende enthält der Band sogar eine halbe Erstausgabe: ein (vermutlich) Brahms’sches Albumblatt für die Pianistin Marie Wieck. Diese Mini-Variation über ein Schumann-Thema war bisher nur in einem 1902 erschienenen Buch über die Familie Wieck-Schumann zu finden. „Der Band zeigt uns den Klavierkomponisten Brahms von einer wenig bekannten Seite“, resümiert Brahms-Expertin Eich. Sie war mitverantwortlich dafür, dass der Notentext des Bandes sorgsam überprüft wurde und die Leser eingehend über die Geschichte der Werke und ihre Quellen informiert werden, wie es sich für wissenschaftliche Gesamtausgaben gehört.

Die Edition ist ein Ergebnis internationaler Kooperation: herausgegeben von der amerikanischen Musikwissenschaftlerin Camilla Cai, redaktionell betreut in Kiel. Doch nicht nur der neue Band (der Ministerpräsident Peter Harry Carstensen vor einiger Zeit beim Besuch der Uni überreicht wurde) erweckt Freude in der Brahms-Forschungsstelle: Seit dem 1. Februar wird eine dritte Mitarbeiterstelle finanziert – eine Anerkennung dieser weltweit einzigartigen Grundlagenforschung in Sachen Brahms und Resultat des Einsatzes, den das Land Schleswig-Holstein für das Projekt zeigt. So haben Dr. Katrin Eich, Dr. Michael Struck, der neue „dritte Mann“ Dr. Johannes Behr und Prof. Siegfried Oechsle als Vorsitzender allen Grund zum Optimismus. Zumal die nächsten beiden Brahms-Bände schon im Druck sind.

Kieler Nachrichten vom 13. März 2008, S. 30 (Autor: Michael Struck)