Ein Kieler in Wien? Mit etwas gutem Willen und berechtigtem Stolz darf man den in 1865 in Keitum auf Sylt geborenen Komponisten Gustav Jenner als Kind unserer Förde einordnen. Denn hier, an der Gelehrtenschule und vor allem unter den Fittichen des musikliebenden Dichters Klaus Groth, blühte das Talent auf, das schließlich zum Adelsschlag als einzigem echten Schüler von Johannes Brahms führte. In dem gut besuchten traditionellen Kieler-Woche-Vortragskonzert der Landesbibliothek, ermöglicht von der Arbeitsgemeinschaft Kieler Auslandsvereine und der Landeshauptstadt Kiel, machte am Donnerstag der Kieler Musikwissenschaftler Dr. Johannes Behr sehr schön deutlich, wie glückliche kulturelle Rahmenbedingungen Begabungen nachhaltig fördern können.
Jenners Klaviermusik, einfühlsam vorgeführt von dem schwäbischen Pianisten und Musikwissenschaftler Dr. Christoph Öhm-Kühnle, steht in der Traditionslinie Schumann-Brahms und mischt dem im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ein verspielt florales Ranken von allerlei Melodiezügen bei.
Fehlt es dieser allemal niveauvollen Kaminzimmermusik noch an Kern, der sich allenfalls in der fis-Moll-Ballade von 1892/93 andeutet, so spürt man in der dreisätzigen Klaviersonate a-Moll von 1899 schon deutlich die Schulung durch Brahms. Das ›Bilden der Form‹, das Behr in Jenners Wiener Lehrjahren im stufenweisen Studium von Strophenlied über Variationen bis zur komplexeren Sonate sowie durch die perfektionierte Beherrschung kontrapunktischer ›Grammatik‹ erkennt – hier zahlt es sich zumindest phasenweise aus. Die Musik gewinnt an Rückgrat und Intensität, verläuft sich aber immer noch allzu leicht ins bloß Angenehme. Dennoch haben Ausstellung (noch bis 3. Juli in der Landesbibliothek) und Konzert die Neugier auf den legendären Kieler Unbekannten Gustav Jenner nachhaltig geweckt.
Kieler Nachrichten vom 25. Juni 2011, S. 29 (Autor: Christian Strehk)