Kann man es wissenschaftlich erfassen und dokumentieren, wenn ein Komponist unschlüssig ist, welche Gestalt ein Werk annehmen soll? Wenn beispielsweise der junge Johannes Brahms noch nicht recht weiß, ob aus seinen neuen musikalischen Ideen eine viersätzige Serenade für neun oder zehn Instrumente oder doch eher eine sechssätzige Fassung für volles Orchester werden soll? Mit diesen und ähnlichen Fragen setzten sich der aus England stammende Brahms-Spezialist Professor Michael Musgrave (New York) und die am Musikwissenschaftlichen Institut beheimatete Brahms-Forschungsstelle auseinander. Das Ergebnis ist der neueste Band der Johannes Brahms Gesamtausgabe, die mit insgesamt etwa 65 Bänden konzipiert ist. Der jetzt veröffentlichte achte Band enthält die Ende der 1850er Jahre komponierten Serenaden op. 11 und op. 16, die wichtige Schritte auf Brahms‘ langem Weg zur Symphonie bildeten.
Sämtliche Werke von Brahms werden in der Brahms-Ausgabe nach und nach „historisch-kritisch“ ediert. Das heißt, ihr Notentext wird anhand der Manuskript- und Druckquellen sorgsam überprüft, korrigiert und kommentiert. Außerdem wird die jeweilige Werk- und Wirkungsgeschichte erforscht. Diese grundlegende Überarbeitung ist erforderlich, da die alte Brahms-Ausgabe von 1926/27 unvollständig und wissenschaftlich stark veraltet ist. Zudem sind inzwischen viele verschollen geglaubte oder unbekannte Quellen aufgetaucht.
Musgraves jahrelange, von der Kieler Brahms-Forschungsstelle kräftig unterstützte Arbeit am Serenaden-Band ist typisch für die musikwissenschaftlich-philologische Grundlagenforschung einer Gesamtausgabe, die im Falle von Brahms weltweit konkurrenzlos ist: Alle erreichbaren Manuskripte und Frühdrucke der Serenaden mussten akribisch miteinander verglichen werden. Hierbei tauchten zahlreiche Abweichungen zwischen den handschriftlichen Quellen und den darauf basierenden Frühdrucken auf. Das betrifft Noten und Lautstärkeangaben ebenso wie Artikulation und andere Spielanweisungen. Der Herausgeber musste bei jeder dieser Abweichungen entscheiden, ob es sich um gewollte Änderungen des Komponisten handelte oder um ungewollte Fehler von Kopisten oder Notenstechern. Die Entscheidungen darüber wurden zwischen Kiel und New York intensiv diskutiert. Die Änderungen im Notentext erläutert der Herausgeber im Editionsbericht, dem Kernstück jeden Bandes.
Über die Entstehung der Serenaden, ihre Aufführungs- und Veröffentlichungsgeschichte sowie Urteile von Zeitgenossen informiert das Einleitungskapitel des Bandes. Grundlage hierfür war vor allem Brahms‘ Briefwechsel. Dessen Auswertung erforderte eine geradezu detektivische Arbeit, wenn beispielsweise zu klären war, von welcher der beiden kurz nacheinander komponierten Serenaden gerade die Rede war. Auch die zeitliche Einordnung der zumeist undatierten Briefe bereitete manche Mühe. Zum Kompositionsprozess der 1. Serenade zeichnet das Einleitungskapitel den Weg von der verschollenen Kammermusikfassung bis zur Druckgestalt „für großes Orchester“ nach. Im Editionsbericht werden Brahms‘ kompositorische Änderungen bei der Niederschrift und späteren Überarbeitung der Partitur dokumentiert. Solch hochinteressante Blicke in seine Kompositionswerkstatt sind selbst für erfahrene Brahms-Forscher eine Herausforderung, da Brahms das ursprünglich Geschriebene oft fast unlesbar machte. Dem neuen Band sind bereits sieben vorangegangen. Sie enthalten die ersten drei Symphonien, das Violin- und Doppelkonzert, das Klavierquintett sowie die Streichquartette und liegen teilweise auch schon in „praktischen“ Ausgaben (Dirigier- und Studienpartituren, Urtextausgaben und Stimmensätzen) vor. Diese sowie die Gesamtausgabe selbst erscheinen im Münchner G. Henle Verlag. Weitere Bände befinden sich teils im Druck, teils in der Redaktion.
So fruchtbar die internationalen Forschungskontakte sind, wird doch in Kiel dringend eine dritte Mitarbeiterstelle benötigt, wie sie bei deutschen Musiker-Gesamtausgaben Mindeststandard ist. Der Schlüssel dazu könnte ein von der Fritz Thyssen Stiftung finanziertes zweijähriges Projekt am Musikwissenschaftlichen Institut sein. Hier erforscht Dr. Johannes Behr Tür an Tür mit der Brahms-Ausgabe den Drucklegungsprozess des 2. Klavierkonzertes. Es bleibt also spannend in Sachen Brahms.
Unizeit (Kieler Nachrichten) vom 26. Mai 2007, Autorenteam: Michael Struck und Katrin Eich