Kiel. Im Schumann- und Chopin-Jahr 2010 wurde es um ‚unseren‘ Johannes Brahms in Schleswig-Holstein zum Glück nicht still. Die Kieler Brahms-Gesamtausgabe legt nun zwei neue Notenbände vor. Das Lübecker Brahms-Institut an der Musikhochschule treibt die Digitalisierung von Dokumenten im Internet voran. Und gemeinsam haben die Wissenschaftler des Landes mit dem Brahms Handbuch ein umfassend informierendes Kompendium herausgebracht.
[…] In [d]en Räumen über dem Bachsaal des Musikwissenschaftlichen Instituts hofft man in diesen Tagen auf besondere Post vom Henle-Verlag: Zwei GA-Bände sind gerade frisch gedruckt worden.
Johannes Behr hat die Herausgabe der Cello- und der Klarinettensonaten erfolgreich vorangetrieben. „Bei den beiden Klarinettensonaten haben wir zusätzlich die Fassungen für Bratsche berücksichtigt. Sie erscheinen im Kleinstich oberhalb der Notensysteme – und zwar nur die abweichenden Stellen“, berichtet der Musikwissenschaftler und ergänzt amüsiert: „Die alte Gesamtausgabe war noch der Meinung gewesen, dass die Bratschenstimme völlig identisch mit dem Klarinettenpart sei… Wir haben da etwas genauer hingeschaut.“ Brahms wollte sich nämlich durchaus die Mühe machen, die Variante instrumentensprzifisch anzupassen, auch durch zusätzliche Noten etwa in Doppelgriffen. Die noch stärker abweichende dritte Fassung für Violine und Klavier wird dann erst im geplanten Band mit den Violinsonaten veröffentlicht.
„Interessant ist, dass relativ viele neue Quellen hinzugezogen werden konnten. Das sind etwa Spielexemplare der Brahms persönlich verbundenen Instrumentalisten – zum Beispiel vom Klarinettisten Richard Mühlfeld, der die Kompositionen durch sein Können angeregt hatte“, so Behr. Da die Forschungsstelle Kontakt zu den Nachfahren dieser Künstler hielt, sei es möglich gewesen, deren persönliches Notenmaterial einzusehen. „Was sich dann als Vorabzug herausgestellt hat, eigens von Brahms bestellt für die Musiker, damit sie die Uraufführung vernünftig vorbereiten konnten.“ Im Fall der Cellosonaten konnten so Fingersätze des Cellisten Robert Hausmann im Anhang dokumentiert werden. Und in der Schweiz sei ein Foto aufgetaucht, das zumindest die erste Notenseite des verschollenen Autographs der e-Moll-Cellosonate zeige.
Es zähle zum Prinzip der GA-Editionen, dass immer auch aufführungspraktische Hinweise transportiert würden, ergänzt Michael Struck. Seinerseits hat er gerade einen Band herausgebracht, der Typisches für die häusliche Nachspielpraxis im 19. Jahrhundert bietet. Brahms eigene Klavierauszüge des Violinkonzerts op. 77 und des Doppelkonzerts op. 102 – heute wichtig in Musikhochschulen, bei Wettbewerben, bei Jugend musiziert. Gleichwohl ist auch den textkritischen Wissenschaftlern Behr und Struck ein Brahms-Satz immer wichtig: „Machen Sie es wie sie wollen, machen sie es nur schön…“‘
Kieler Nachrichten vom 25. November 2010, S. 22 (Autor: Christian Strehk)