Brahms zu lieben fällt relativ leicht, seine Werke zu spielen eher schwer. Ihn aber gleichzeitig zu verehren, dabei sein Schaffen mit „extrascharfem“ Blick exakter denn je zu edieren und auch noch in eigenen Gesprächskonzerten gewinnend erklingen zu lassen, scheint ein Ding der Unmöglichkeit. Doch Prof. Dr. Siegfried Oechsle, Ordinarius für Musikwissenschaft muss in seiner Begrüßung am Dienstagabend im Bach-Saal der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel nicht übertreiben, wenn er die Mitarbeiter und Herausgeber der Johannes Brahms Gesamtausgabe als außergewöhnliches „wissenschaftliches Kompetenzzentrum“ für nicht nur „sichtbar“, sondern eben auch „hörbar“ gemachte Brahms-Musik heraushebt.
Jost de Jager, Staatssekretär im Wissenschaftsministerium, erlebte die von Bund und Land geförderte und vom Wissenschaftsrat jüngst „sehr positiv“ eingestufte Arbeit der Kieler Brahms-Ausgabe somit nicht nur als „geisteswissenschaftliches Langzeitprojekt mit weltweiter Bedeutung“, sondern auch als Projekt mit öffentlicher Ausstrahlung.
In der Tat: Die Musikwissenschaftler Dr. Michael Struck, Dr. Johannes Behr und Dr. Katrin Eich machen in der Veranstaltung „Brahms extrascharf“ nachhaltig neugierig auf drei neue GA-Bände, die lustvolles Unterhaltungsrepertoire wie die Zigeunerlieder op. 103, Volkslieder für vierstimmigen Chor mit Vorsänger und Klavierbegleitung oder auch Klavierarrangements enthalten. Der zugereiste Frankfurter Kollege Dr. Bernd Wiechert hat mit Brahms‘ Handgelenksübung Hochzeitswitz (auf ein Scherz-Gedicht von Gottfried Keller) und den gewitzt auf den Komponisten-Kollegen Heinrich von Herzogenberg bezogenen Fassungen des zauberhaften Vokalquartetts mit Klavier O schöne Nacht! Op. 92 Nr. 1 Besonderes zu bieten. Wenn die Forscher Struck und Behr am Bösendorfer-Flügel dann in die nonverbale vierhändige Klavierfassung der Liebeslieder-Walzer oder in das (vom eigens angereisten Briten Prof. Dr. Dr. Robert Pascall vorgestellte) vierhändige Klavier-Arrangement der Ersten Symphonie c-Moll op. 68 hineinleuchten, fesselt das treusorgende Bemühen der beachtlichen Pianisten, jede notierte Nuance, jedes An- und Abschwellen, jeden Akzent akustisch zu verdeutlichen. Womöglich verkündigt ihr Spiel aus den frisch gedruckten und an die Landesregierung übergebenen Partitur-Bänden erstmals „authentisch“ den Notentext ganz im Sinne des Meisters.
Kommt dann unter der Leitung eines „Musik-Praktikers“, Universitätsmusikdirektor Bernhard Emmer, mit dem Vocalensemble der CAU Kiel studentische Musizierlust hinzu, bleibt vielleicht eher mal eine Punktierung zugunsten großer Legatoseligkeit und dezentem Swing auf der Strecke. „Kein Unglück“, hätte der köstlich knurrige Brahms das wahrscheinlich knapp kommentiert – zumal Emmers Auswahlchor mit rundem Klang, schöner Text-Ton-Legierung und solistischen Qualitäten glänzt.
Aber auch der frisch gekürte Schumann-Preisträger Struck vergisst hier und da seinen hochwissenschaftlichen Eid und beweist seine extrascharfe Liebe zu Brahms: Wie er beispielsweise nach vorsichtigem Beginn den Ersten der Ungarischen Tänze (in g-Moll) mit rhythmischer Energie und sattem Sound auflädt, ist angesichts der technisch scheußlich schweren zweihändigen Klavierfassung (WoO 1) den allergrößten Beifall unbedingt wert.
Kieler Nachrichten vom 18. Juni 2009, Autor: Christian Strehk