Dem Komponisten nachträglich Arbeit abnehmen

Bereits zum 20. Mal vergibt die Brahms-Gesellschaft Schleswig-Holstein mit Sitz in Heide den mit 10 000 Euro dotierten Brahmspreis. Sie würdigt damit diesmal eine Institution, die sich in besonderer Weise um Brahms’ musikalisches Erbe verdient gemacht hat: die Forschungsstelle „Johannes Brahms Gesamtausgabe“ am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Kiel.

Nach einer ersten Aufarbeitung des Schaffens durch die 1926/27 erschienene „alte“ Gesamtausgabe, die heute als wissenchaftlich überholt und unvollständig gilt, zieht die Neue Ausgabe sämtlicher Werke alle erreichbaren Werkquellen heran. Auch fragmentarisch überlieferte Kompositionen, Entwürfe und Skizzen werden in ihrer Bedeutung untersucht. Obwohl Brahms ein sorgfältiger Korrekturleser war, habe sich gezeigt, dass ihm viele Schreib-, Kopisten- und Stecherfehler auf dem Weg zur gedruckten Partitur entgingen. „Wir nehmen ihm diese Arbeit nachträglich ab, um das Werk in optimaler Form herausgeben zu können“, erläutert Dr. Michael Struck, einer von drei wissenschaftlichen Mitarbeitern um den Vorsitzenden der Forschungsstelle, Professor Dr. Siegfried Oechsle.

Bis zu 300 Korrekturen des Notentextes müssen pro Gesamtausgaben-Band vorgenommen werden – von einzelnen Noten über Lautstärke- und Artikulationsbezeichnungen bis zu Wortangaben. „Unser Ziel ist es, den Intentionen des Komponisten so nahe wie möglich zu kommen.“ Bisher sind elf der 65 Notenbände erschienen, etliche weitere befinden sich im Druck oder in Arbeit.

Verliert man bei der tagtäglichen Auseinandersetzung mit Brahms nicht irgendwann die Faszination für den Komponisten? „Nein“, beteuert Michael Struck und schließt dabei auch seine Kollegen Dr. Katrin Eich und Dr. Johannes Behr ein. „Hinzu kommt, dass wir selbst musizieren. Dadurch erleben wir eine spannende Wechselwirkung zwischen der Kontrolle des Notentextes und dem Erklingen der Musik. Außerdem sind Brahms’ Kompositionen so vielschichtig, dass einem bei jedem Hören neue Feinheiten aufgehn. Dadurch wirkt die Musik nicht nur wissenschaftlich-analytisch, sondern auch emotional immer wieder neu.“ Besonders aufregend wird es, wenn plötzlich verschollen geglaubte Handschriften auftauchen oder sogar unbekannte Alternativfassungen wie die im Heider Klaus-Groth-Museum gefundenen Groth-Vertonungen aus den acht Liedern und Gesängen op. 59. „Für einen Moment wird so der Blick in Brahms’ Komponistenwerkstatt frei.“

Im Rahmen eines Festaktes (Karten: 0481/69531) wird der Brahms-Preis am 2. Mai in der St.-Jürgen-Kirche Heide verliehen. Die Laudatio hält Prof. Dr. Wolfgang Sandberger, Leiter des Brahms-Instituts an der Musikhochschule Lübeck. Es singt der NDR Chor unter Philipp Ahmann.

Kieler Nachrichten vom 30. April 2010, S. 19 (Autor: Andreas Guballa)