Brahms komplett

Lebendige Musikgeschichte: Wenn Dr. Michael Struck als moderierender und am Klavier demonstrierender Fachmann den spannenden Notendialog zwischen dem 23-jährigen Johannes Brahms und seinem zwei Jahre älteren Freund Joseph Joachim beleuchtet, werden die Ohren scharf gestellt. Dass dann auch noch der in London lebende deutsche Pianist Andreas Boyde so gute Kontakte zur Kieler Brahms-Gesamtausgabe pflegt, dass er zu zwei Konzerten in den Bachsaal des musikwissenschaftlichen Instituts anreist, ist ein Glücksfall: Boyde hat nämlich erst im Juli seine viel gelobte, beim Label OehmsClassics erschienene Gesamteinspielung aller Soloklavierwerke des Hamburger Komponisten komplettiert.

Gegenstand des Austausches waren 1856, im Todesjahr Robert Schumanns, die eigenwilligen Variationen über ein irisches Elfenlied von Joseph Joachim, die Michael Struck in dessen Hamburger Nachlass entdeckte, 1989 edierte und bei den Husumer Raritäten der Klaviermusik sensibel spielte, was ein gerade erst veröffentlichter Mitschnitt bei Danacord beweist. Dieser tatsächlich ‚gestaltenreiche Charakterstück-Zyklus‘ regte Brahms zum Nachdenken über sein vielzitiertes Ideal einer ‚strengen, reinen‘ Variationstechnik an, die den Bass der Vorlage beibehält, um umso freier ‚über das Thema wühlen‘ zu können. Joachims mehrfach umgearbeitetes Studienwerk, in dem Struck ‚freundschaftliche Huldigungen‘ offenlegt, führte dann zur kompositorischen Antwort, dem ‚Toben eines ungezogenen Jungen‘ (Brahms) in seinen beinahe skurilen Variationen über ein ungarisches Lied op. 21 Nr. 2. Worin der konstruktive Diskurs mündete, zeigen die Variationen und Fuge über ein Thema von Händel op. 24. Da ist die pianistisch herausfordernde Größe voll entwickelt und wird von Boyde trotz kleiner Hakeleien und einem gerne etwas harten Fortissimo imposant bezwungen.

Der Pianist zeigt seine größten Stärken, wenn es um blitzschnell erfasste Motivsplitter geht – wie im ‚romantischen Heavy Metal‘ (Struck) des ganz jungen, wilden Brahms (Scherzo op. 4) – oder um die magischen Lichtwechsel des späten, abgeklärt vergrübelten. Im Konzert (Intermezzo Es-Dur op. 117 Nr. 1) und auf der neusten CD (dort beispielsweise im Intermezzo op. 118 Nr. 6) bietet er unvergessliche poetische Momente.

Kieler Nachrichten vom 25. November 2010, S. 22 (Autor: Christian Strehk)