Die „Londoner Fassung“ des Deutschen Requiems – ein Fassungsphantom

Seit etwa den 1990er Jahren haben Musiker, Konzertveranstalter, CD-Labels und Musikschriftsteller zunehmend Interesse an der sogenannten „Londoner Fassung“ des Deutschen Requiems gezeigt. Dabei liest man ebenso oft wie falsch, Brahms habe für die erste nachweisbare Aufführung in England eine Fassung für ein bzw. zwei Klaviere zu vier Händen, Chor und Solostimmen geschrieben.

Tatsache ist, dass bei besagter Privataufführung Brahms’ ‚gesangloses‘ Arrangement für Klavier zu vier Händen zur Begleitung eines etwa 30-köpfigen Chores und der beiden Solisten verwendet wurde. Die Aufführung „vor geladenen Zuhörern“ erfolgte am 7. oder 10. Juli 1871 in den Gesellschaftsräumen des Chirurgen Sir Henry Thompson und seiner Gattin Lady Kate Thompson, die unter ihrem Mädchennamen Kate Loder einst erfolgreich als Pianistin gewirkt hatte. Brahms’ Freund Julius Stockhausen leitete Proben und Aufführung und sang die Soli in Nr. 3 und 6, während Anna Regan das Sopransolo von Nr. 5 übernahm. Brahms’ vierhändiges Klavierarrangement wurde von Gastgeberin Lady Thompson und dem „Musikveteranen“ Cipriani Potter gespielt.

Diese Konstellation hatte zweifellos praktische Gründe: So erlaubten die Räumlichkeiten der Thompsons keine Mitwirkung eines Orchesters. Und die Wiedergabe des Klavierauszuges, die einen nicht nur gewandten, sondern auch belastungsfähigen Spieler erfordert hätte, schied wohl aus, weil sich bei Lady Thompson zu jener Zeit erste Anzeichen einer Lähmung bemerkbar machten dürften und der brahmsbegeisterte Potter damals bereits 79 Jahre zählte (er starb kurz nach der Aufführung).

Aufschlussreich ist das bei jener Aufführung verwendete Exemplar des vierhändigen Arrangements aus dem Besitz von Lady Thompson (Privatbesitz Wien). Es dokumentiert, dass das Arrangement damals einer Aufführungssituation angepasst wurde, für die es nicht gedacht war: So trug die Besitzerin mit Tinte die im Arrangement auf Brahms’ Wunsch hin fehlenden, da beim Vierhändigspiel ohne Gesang unnötigen Aufführungsbuchstaben nach, damit beim Proben eine schnelle Koordination mit Chorstimmen und Klavierauszug möglich war. Zudem wurde ein gravierendes klangliches Problem der Kombination von Arrangement und ‚realem‘ Gesang – die von Brahms nicht intendierte Verdopplung bestimmter chorischer und solistischer Vokalpartien – zumindest entschärft. In Lady Thompsons Exemplar sind nämlich fast alle Takte, in denen der Klaviersatz reine A-cappella-Partien des Chores wiedergibt, mit Bleistift durchgestrichen. In anderen Fällen wurden lediglich entsprechende Teile der Klavierpartie eliminiert. Allerdings sind die Tilgungen keinesfalls konsequent, zumal die vom Arrangement wiedergegebenen solistischen Gesangspartien weitgehend ungestrichen blieben. Möglicherweise diente das Arrangement also auch als Korrepetitionspartie (Einstudierhilfe) und fungierte vielleicht sogar bei der Aufführung selbst als stützendes Gerüst für Chor und Solisten.

So ist die „Londoner Fassung“ zwar eine aufführungshistorische Tatsache, war damals aber ein Notbehelf, der im Hinblick auf die real erklungene Werkgestalt nichts mit Brahms’ Intentionen zu tun hatte. Sie mischte gewissermaßen den Klaviersatz des Arrangements mit der Funktion eines Klavierauszuges und wurde dadurch in puncto Authentizität zum Fassungs-Phantom.

Michael Struck, Juli 2012

Auszug aus:

Michael Struck: Requiem in wechselnden Gestalten – Werk-, Gebrauchs-, Phantom- und Aufführungsfassungen, in: „Ich will euch trösten…“. Johannes Brahms – Ein deutsches Requiem. Symposion – Ausstellung – Katalog, Brahms-Institut an der Musikhochschule Lübeck, 27. Juli – 15. Dezember 2012, hrsg. von Wolfgang Sandberger (Veröffentlichungen des Brahms-Instituts an der Musikhochschule Lübeck, Bd. VI), Lübeck 2012, S. 27–32. Die vorliegende Passage (mit Literaturhinweisen) steht auf den Seiten 29–31.

Der Katalog enthält zahlreiche aufschlussreiche Abbildungen mit Erläuterungen sowie Textbeiträge von Otto Biba (Wien), Jan Brachmann (Berlin), Michael Struck (Kiel), Wolfgang Sandberger (Lübeck) und Johannes Schilling (Kiel). Ausstellungskurator: Stefan Weymar (Lübeck).

Vertrieb: edition text + kritik, Richard Boorberg Verlag, München (ISBN 978-3-86916-218-8).