Brahms-Fälschung entlarvt. Neues zum Rätselkanon WoO posth. 29

Derzeit wird auf dem Autographenmarkt wieder einmal ein bislang unbekanntes Albumblatt „von Johannes Brahms“ zum Kauf angeboten. Dabei handelt es sich um ein Manuskript des Rätselkanons WoO posth. 29 zu Ludwig Uhlands berühmt-berüchtigten Worten: „Wann hört der Himmel auf zu strafen / mit Albums und mit Autographen“. Als die Mitarbeiter der Kieler Brahms-Forschungsstelle um Rat bei einer Kaufentscheidung gebeten wurden, kamen erste Zweifel an der Echtheit des Blattes auf: Obwohl die Handschrift derjenigen von Brahms ähnelt, fehlen sowohl die erste Note des Kanons als auch die – für andere, tatsächlich vom Komponisten stammende Niederschriften charakteristische – Andeutung des Textes durch das Wort „Wann“ (siehe Abbildung). Zusätzlich gab die Widmung „Herrn Lud. Kramer / 10-Jul. 1896“ Rätsel auf, da eine Bekanntschaft von Brahms mit einer Person dieses Namens nicht nachgewiesen werden konnte. Ein weiteres Indiz stellte die ungenaue Schlüsselung dar, die in einem Notat von Brahms′ Hand so nicht zu erwarten wäre. Letzte Sicherheit verschaffte allerdings erst ein Vergleich mit einem Faksimile des Kanons, das der „Illustrierten Musikgeschichte“ (Berlin und Stuttgart [1885]) des Musikforschers Emil Naumann beigegeben ist: Etwa im Frühjahr des Jahres 1885 muss Naumann Johannes Brahms um ein Autograph für seine Publikation gebeten haben, denn am 2. Mai 1885 schrieb der Komponist an ihn:

Sehr geehrter Herr,

Hier ist die versprochene Klaue [das zu faksimilierende Albumblatt mit dem Rätselkanon WoO 29, siehe Abbildung] u. zwar, wie Sie auch finden werden, in der geeignetsten Weise. Ich erinnere daß Sie den Anfang der Akademischen Ouverture wünschten; ich habe aber das Manuscript nicht u. kann es doch nicht wie ein Albumblatt abschreiben. Hrn. Simrock brauchen Sie aber des gewünschten Verzeichnißes wegen nicht zu bemühen; Sie finden es mancher Orten, sehr genügend jedenfalls in dem von Papst in Leipzig. Ein roher Verleger möchte zudem nicht einmal anerkennen daß es wichtiger ist, in andern Kapiteln der Musikgeschichte besser beschlagen zu sein als in unserm kleinen. So wird Sie auch an meinem Autograph mehr das Wort=Räthsel interessiren als das gar zu kindliche Noten=Räthsel. Ob Sie dann Ihren Lesern die Mühe ersparen? Schließlich sagen Sie Ihrer Frau m. theilnahmsvollen Gruß u. schreiben bald ein fröhliches Fine!

Hochachtungsvoll ergeben
J. Brahms

(Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt am Main, Signatur: Mus. Autogr. J. Brahms A4. Übertragen mit freundlicher Genehmigung)
(Emil Naumann: Illustrierte Musikgeschichte, Bd. 2, Berlin und Stuttgart (W. Speemann) [1885], vor S. 1089)

Augenscheinlich war Naumann – der im Zuge der Recherchen als Adressat dieses Briefes identifiziert werden konnte – für die Arbeit an seiner umfassenden zweibändigen „Illustrierten Musikgeschichte“ auch an einem Brahms-Werkverzeichnis interessiert. Der von Robert Keller für den Simrock-Verlag erstellte Katalog war zu jenem Zeitpunkt allerdings noch in Arbeit, sodass Brahms ihn kurzerhand auf das 1883 bei P. Pabst in Leipzig erschienene „Verzeichniss der im Druck erschienenen Compositionen von Johannes Brahms“ verwies.

Wie der Vergleich des Faksimiles aus der Naumann’schen „Illustrierten Musikgeschichte“ mit dem fraglichen Albumblatt ergibt, handelt es sich bei letzterem tatsächlich um eine auf möglichst große Ähnlichkeit zur Vorlage angelegte Abschrift des ersteren. Um seine Fälschung wie eine separate, von gleicher Hand angefertigte Niederschrift wirken zu lassen, ließ der Schreiber dabei die Andeutung des Textes weg und verschob auch die Nennung des Textdichters „Ludwig Uhland“ über bzw. unter den Schluss des zweiten Notensystems. Entscheidend für die Einschätzung, dass es sich bei dem Manuskript zweifellos um eine Fälschung handelte, ist aber die Erkenntnis, dass der Schreiber musikalisch offensichtlich wenig geschult war: denn er übersah einerseits die erste Note des Kanons und interpretierte andererseits das gegen Ende von Brahms’ Notat ins untere System ragende Fragezeichen irrtümlich als Notenzeichen. Und so findet sich an eben dieser Stelle des fraglichen Manuskripts ein (ohne Kenntnis dieses Umstands) unsinniges Häkchen zwischen den unteren beiden Notenlinien, was eine Abhängigkeit von Faksimile und Albumblatt eindeutig belegt.

Wahrscheinlich ist aber nicht das Faksimile aus einem Exemplar der Naumann’schen Musikgeschichte direkt Vorbild für die Fälschung gewesen, sondern ein späterer Nachdruck in einer anderen Publikation. Dabei scheiden die Abbildungen des Albumblatts bei John Alexander Fuller-Maitland (Fuller-Maitland: Masters of German Music, New York (Skribner) 1894, nach S. 80 sowie Fuller-Maitland: Brahms, autorisierte deutsche Bearbeitung von A.W. Sturm, Berlin und Leipzig (Schuster & Loeffler) 1912, Abbildungsanhang S. 72) aus, da hier die Signatur „Johannes Brahms“ fehlt. Als mögliches Vorbild hingegen könnte der erneute Abdruck in der Brahms-Monographie des irischen Komponisten Charles Villiers Stanford aus den 1920er Jahren gedient haben:

(Charles Villiers Stanford: Brahms, London (Murdoch) [192?], S. 19)

Durch das Reproduktionsverfahren haben sich hier einige Ungenauigkeiten gegenüber dem Faksimile bei Naumann eingeschlichen, die sich in unterschiedlicher Weise in der Fälschung niedergeschlagen haben: Einerseits erscheint der obere Ansatz des Auflösungszeichens im 4. Takt des oberen Systems hier mit zwei kleinen, voneinander abgesetzten Strichen über der obersten Notenlinie statt einem leicht von unten angesetzten Häkchen. Und diese beiden Striche finden sich, um einiges deutlicher ausgeprägt, in der Fälschung wieder. Andererseits lässt sich, ausgehend von dem bei Stanford wiedergegebenen Faksimile, ein weiterer Fehler in dem gefälschten Albumblatt erklären: In Takt 3 des unteren Systems notierte der Schreiber irrtümlich statt der Achtelnoten (gelesen im oberen der beiden vorgezeichneten Schlüssel) c-b und b-a die Achtelnoten c-b sowie eine Viertelnote a. Augenscheinlich war der Fälscher beim Kopieren der beiden aufeinanderfolgenden Achtelnoten b um eine Note nach rechts verrutscht und interpretierte dann – aufgrund einer kleinen Lücke, die erst in der Reproduktion für den Stanford-Band in der Verbalkung der zweiten Achtelgruppe dieses Taktes entstanden war – die letzte Note des Taktes als Viertelnote a. Ein weiterer Befund, der für die Brahms-Monographie von Stanford als Vorlage der Fälschung sprechen könnte, findet sich in der hinzugefügten Widmung „Herrn Lud. Kramer / 10-Jul. 1896“: Aufgrund des auffälligen Bindestrichs in der Datierung ist anzunehmen, dass der Verfertiger der Abschrift aus dem englischen oder amerikanischen Sprachraum stammt.

Mit der Annahme, dass nicht das Faksimile bei Naumann sondern dessen qualitativ schlechterer Nachdruck bei Stanford als Vorlage für die Fälschung gedient hat, geht allerdings auch die Vermutung einher, dass der Fälscher aus unlauteren Motiven gehandelt haben könnte: Wäre die Abschrift tatsächlich 1896 nach der Naumann‘schen Musikgeschichte von 1885 entstanden, wie die Widmung zunächst vermuten lässt, so hätte es sich bei dem gefälschten Albumblatt z.B. um ein spaßiges Geschenk des Schreibers an einen ihm bekannten Herrn Lud. Kramer handeln können. Nimmt man allerdings an – was die obigen Ausführungen nahe legen – dass die Abschrift frühestens in den 1920er Jahren nach dem Faksimile aus der Stanford-Monographie (oder einer weiteren hiervon abstammenden Reproduktion) entstanden ist, so erscheint es nicht abwegig, von einem bewussten Täuschungsversuch – aus welchen Motiven auch immer – auszugehen.

Sammler seien also vor dem Ankauf des in den vergangenen Jahren wiederholt auf dem Autographenmarkt aufgetauchten Angebotes gewarnt.

Claus Woschenko, 16. Juli 2013