Violinkonzert D-Dur op. 77

(Serie I, Band 9), hrsg. von Linda Correll Roesner und Michael Struck, München 2004

Unter Brahms’ vier Solokonzerten wurde das 1878 entstandene, 1879 uraufgeführte und publizierte Violinkonzert zu Lebzeiten des Komponisten am häufigsten aufgeführt. Wichtigster Diskussionspartner bei der Erprobung und Publikation des Werkes war der Geiger Joseph Joachim, dem das Werk auch gewidmet ist. An werkgenetischen Dokumenten sind neben Brahms’ und Joachims Briefwechsel vor allem folgende Werkquellen zu nennen:

  1. frühe autographe Solostimme (1. Satz und Beginn des 3. Satzes), die mit zahlreichen Fragevermerken und Alternativversionen die Diskussion zwischen Brahms und Joachim über die Solopartie eröffnete;
  2. autographe Partitur (Stichvorlage) mit vielen aufschlussreichen autographen Änderungen sowie Rückübertragungen des Lektors Robert Keller aus der abschriftlichen Solostimme (siehe 3.);
  3. abschriftliche Solostimme (Stichvorlage) mit zahlreichen Änderungsvorschlägen und definitiven Änderungen der Solopartie durch Joachim und Brahms;
  4. teils abschriftliche (Solopartie), teils autographe (Klavierpartie) Stichvorlage des Klavierauszuges mit vielen autographen Änderungen, vor allem in der Klavierpartie, sowie Kellers Rückübertragungen von Änderungen der Solopartie aus der abschriftlichen Solostimme (siehe 3.).

Der textkritische Vergleich der genannten Manuskripte sowie der Frühdruckquellen erlaubt zum einen die fundierte Aufarbeitung und Klärung der vielfältigen Textprobleme, die die Hauptquelle – Brahms’ Handexemplar des Partitur-Erstdruckes – trotz Brahms’ und Kellers redaktioneller Arbeit und Korrekturlesung erkennen lässt. Zum anderen geben die Werkmanuskripte in ihren komplexen Abhängigkeiten und in ihrer Relation zur gedruckten Werkgestalt faszinierende Einblicke in die Entstehung und Ausarbeitung des Werkes. Gehen viele spieltechnische Eingriffe auf Vorschläge Joachims zurück, so betrifft eine große Zahl weiterer Änderungen die Bereiche der Instrumentation und Klangwirkung sowie der Satztechnik, Dynamik und Artikulation.

In der Einleitung des Bandes werden die Entstehungs- und Aufführungsgeschichte, frühe Phasen der Rezeption und der Publikationsprozess dargestellt, wobei Joachims Rolle bei der Gestaltung der Solopartie akzentuiert wird. Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang die Solokadenz zum 1. Satz, deren Gestaltung Brahms von vornherein Joachim überließ. Die (nicht überlieferte) vorläufige Version, die Joachim bei der Leipziger Uraufführung spielte, wurde im folgenden weiter ausgearbeitet. Joachims Kadenz kursierte dann in zahlreichen Abschriften bei Joachims Schülern und anderen Geigern, erschien aber erst nach Brahms’ Tod im Druck (1902). Allerdings belegt eine Kadenzabschrift der von Brahms und Joachim geförderten jungen Geigerin Marie Soldat zusammen mit einigen Schreiben von Brahms und Marie Soldat (Gesellschaft der Musikfreunde in Wien), dass Brahms Joachims definitive Kadenzgestalt für zu lang hielt und eine kürzere Fassung bevorzugte.

Da Brahms seinen Freund Joachim zur Gestaltung einer Kadenz autorisierte und sich später dezidiert zu deren Umfang und Gestalt äußerte, enthält der vorliegende Band einen A n h a n g zu Joachims Kadenz, in dem zunächst deren Entstehung und Überlieferung dokumentiert wird. Anschließend werden vier Versionen von Joachims Kadenz im Notentext wiedergegeben und textkritisch kommentiert: a. Druckfassung (1902); b. die ursprüngliche Version von Soldats Abschrift, die in ihrem Verlauf der Druckfassung nahezu entspricht, in vielen Details aber noch von ihr abweicht; c. eine von Brahms selbst in Soldats Abschrift angedeutete und von Soldat dann modifiziert ausgearbeitete gestraffte Fassung der Kadenz, die Brahms’ Vorstellungen offenkundig am meisten entsprach und auf ein konkretes früheres Stadium der Kadenz zurückgehen dürfte; d. Parallelversion zu Fassung c, die durch eine weitere, in Privatbesitz (Kanada) befindliche Abschrift von Joachims Enkelschülerin Anna Löw (Schülerin von Joachims einstigem Schüler Karl Prill) belegt, violintechnisch aber weniger ausgearbeitet ist.

Rezension

The last three years have witnessed the publication of two critical editions of Brahms’s Violin Concerto: Johannes Brahms, Violinkonzert D-Dur Opus 77, ed. Linda Correll Roesner and Michael Struck, Serie I, Band 9 of Johannes Brahms. Neue Ausgabe sämtlicher Werke (München: G. Henle Verlag, 2004) – hereafter NA; and Johannes Brahms, Konzert in D-dur für Violine und Orchester op. 77, ed. Clive Brown (Kassel: Bärenreiter, 2006) – hereafter Bär. […].

[…] these editions set out to accomplish somewhat different things. NA aims above all at »the restoration of the authentic text of the work so that it is free from writing, copying and publishing errors, as well as unauthorised additions […]«. Bär, while also aiming to establish an accurate text from the same primary sources, focuses particularly on »the integral role played by Joachim in determining the final form of the work […]«. Accordingly, Brown treats the first edition of the solo violin part, which includes Joachim’s fingerings and bowings as the primary source text for the solo violin part in the full score […]. While NA supplies Joachim’s markings in the editorial report and as footnotes within the printed score, the source text for the solo violin part in NA stems primarily from Brahms’s fullscore autograph and Handexemplar […].

Reflecting its function as a complete-edition volume, NA lists variants from all early sources in exhaustive detail. With this information, one can trace Brahms’s subtle orchestrational revisions as he responded to early performances and reconstruct the complex interplay between Brahms and Joachim in the working out of the solo violin part. In the critical commentary for Bär, Brown passes over reporting each and every notational variant in the early sources, but addresses selected editorial issues at length, sometimes drawing on his expertise in 19th-century performance practice and his experience as a concert violinist. Reading his commentary together with that of Roesner and Struck in NA reminds one that it is possible to interpret the same source information quite differently […].

What does seem certain, however, ist that a comparison of these two critical editions validates the decision to catalog even minute differences between sources in NA. This approach has sometimes been criticized as excessively detailed. But when the same source information can yield the many different readings found in these two editions, it becomes essential for the source information itself to be laid out in a comprehensive way. No better argument could be made for the continuation of the new Brahms complete edition along its present course, or for patience with the deliberate pace of its appearance.

William Horne, in: The American Brahms Society, Newsletter 25, Nr. 1, Frühjahr 2007, S. 5–8