(Serie I, Band 4), hrsg. von Robert Pascall, München 2011
Mit der 4. Symphonie hat Robert Pascall die historisch-kritische Edition der vier Symphonien von Brahms in ihrer orchestralen Gestalt abgeschlossen, die er überwiegend allein, im Fall der 2. Symphonie zusammen mit Michael Struck im Rahmen der JBG vorlegte.
Die in den Jahren 1884 (1./2. Satz) und 1885 (4./3. Satz) komponierte 4. Symphonie konnte Brahms, wie schon das 2. Klavierkonzert, vor den ersten Aufführungen intensiv mit dem damals von Hans von Bülow geleiteten Meininger Hoforchester proben. Nach der von Brahms dirigierten Meininger Uraufführung am 25. Oktober 1885 und einer wenige Tage später von Bülow geleiteten Wiederholung führte Brahms das Werk zunächst während einer Tournee der Meininger Hofkapelle in Deutschland und Holland, danach auch mit anderen Orchestern auf, ehe er es seinem Hauptverleger Fritz Simrock zur Publikation überließ.
In der Einleitung seiner Edition resümiert Pascall anfangs die Hinweise der Brahms-Literatur auf Verbindungen des passacagliaartigen Finalsatzes der Symphonie mit dem Passacaglia- bzw. Chaconnethema des Schlusssatzes aus Johann Sebastian Bachs Kantate »Nach dir, Herr, verlanget mich« (BWV 150) und geht dann intensiv auf Entstehung, Aufführungsgeschichte, frühe Rezeption und Publikation der Symphonie ein. Eingehend wird zudem die Frage der von Brahms im Partiturautograph am Ende des 1. Satzes nachgetragenen und später wieder gestrichenen Einleitungstakte des Kopfsatzes erörtert, deren Gültigkeit Pascall auf den Zeitraum zwischen spätestens Anfang Oktober und spätestens Anfang November 1885 datieren kann. Außerdem werden anhand etlicher von Brahms für Joseph Joachim im Partiturautograph notierter, vor der Drucklegung wieder getilgter agogischer Hinweise Fragen der Aufführungspraxis angesprochen. Bemerkenswerterweise stimmen Brahms’ Hinweise kaum mit Walter Blumes Angaben über Fritz Steinbachs Interpretation der 4. Symphonie »in der Meininger Tradition« überein, obwohl Brahms Steinbach als Dirigenten seiner Werke schätzte und Blumes Angaben in der Brahms-Literatur gelegentlich vorschnell mit den interpretatorischen Vorstellungen des Komponisten gleichgesetzt werden.
Die Überlieferung des Notentextes zur 4. Symphonie ist dadurch geprägt, dass die erhaltene autographe Partitur als Dirigierpartitur und Stichvorlage diente. Aufschlussreich ist, dass der für den Simrock-Verlag als Lektor tätige Robert Keller substanzielle Änderungen, die Brahms während der ersten Korrekturlesung im Korrekturabzug vorgenommen hatte, mit roter Tinte ins Partiturautograph rückübertrug und per Zuweisungskürzel (»J. Br.«) dem Komponisten zuordnete. Anhand von Lesartendivergenzen zwischen Stichvorlage und Partitur-Erstdruck kann Pascall zudem nachweisen, dass Brahms auch noch an einem zweiten Korrekturgang mitgewirkt haben muss.
Ein Sonderproblem löst die neue Edition grundlegend anders, als es Hans Gál seinerzeit in der alten Gesamtausgabe (Johannes Brahms: Sämtliche Werke, Bd. 2, Leipzig 1926) tat: Einige handschriftliche Änderungen und Zusätze, die Brahms in seinem Handexemplar des Partitur-Erstdruckes vornahm, bewertet Pascall nach differenzierter Erörterung nicht als letztgültige Lesarten, sondern als versuchsweise angebrachte bzw. im Hinblick auf eine spezielle Aufführung vorgenommene ›situative‹ Änderungen. Unautorisiert erscheinen schließlich vereinzelte Notenänderungen in posthumen Partiturauflagen, die nach Brahms’ Tod allein auf Veranlassung des Verlages zur Milderung dissonanter Konstellationen vorgenommen worden sein dürften; sie widersprechen nicht nur den zu Brahms’ Lebzeiten erschienenen Auflagen von Partitur und Stimmen, sondern teilweise auch Brahms’ eigenen Arrangements der 4. Symphonie für ein bzw. zwei Klaviere zu vier Händen.