Symphonie Nr. 1 c-Moll op. 68

(Serie I, Band 1), hrsg. von Robert Pascall, München 1996

Der erste Band der JBG enthält mit der 1. Symphonie ein Werk, an dem Brahms mehr als 14 Jahre lang arbeitete. Die Skrupel des Komponisten, sein symphonisches Erstlingswerk zu vollenden und an die Öffentlichkeit zu geben, schlagen sich nicht allein in der langen Entstehungszeit, sondern auch in der komplexen Quellenlage und der editorischen Problematik nieder.

Während der Arbeit an dem Band konnten Herausgeber und Forschungsstelle von dem glücklichen Umstand profitieren, dass der Forschungsstelle Ende 1992 die jahrzehntelang verschollen geglaubten Stichvorlagen zum 1. und 4. Satz zugänglich wurden. Durch ihre Einbeziehung verbesserte sich die Quellensituation und damit die Basis editorischer Entscheidungen nachhaltig. So ist im Falle des 1. Satzes (dessen Autograph verschollen ist) die wiedergefundene Partiturabschrift das einzige erhaltene Manuskript, das nachweislich durch Brahms’ Hände ging, d. h. beim Dirigieren benutzt und von ihm vor dem Stich revidiert wurde. Im Hinblick auf das Finale zeigte sich, dass nicht die überlieferte autographe Partitur als Stichvorlage diente, wie in McCorkles Werkverzeichnis angegeben, sondern das vom Partiturautograph abgenommene, bisher unbekannte abschriftliche Partiturmanuskript: Auf diese Weise lassen sich für den 1. Satz Stichfehler des Erstdrucks offenlegen; für das Finale können nunmehr Kopistenfehler und kompositorische Änderungen weit genauer bestimmt werden als bisher.

Auf der Grundlage einiger abschriftlicher Streicherstimmen, die für die Aufführungen der 1. Symphonie aus der Zeit vor dem Erstdruck angefertigt worden waren, wird im Anhang des Bandes die vorläufige Fassung des langsamen Satzes im Verlauf der Partien von Violine I/II und Viola wiedergegeben. Diese Version erklang bei der Karlsruher Uraufführung sowie den weiteren frühen Aufführungen, ehe Brahms den Satz kurz vor der Drucklegung zur endgültigen Fassung umarbeitete. Außerdem werden im Anhang zum Notentext zwei Skizzen zum 2. und 3. Satz sowie der ursprüngliche kürzere Schluss des 2. Satzes mitgeteilt.

Die rund 280 Eingriffe gegenüber der Hauptquelle betreffen hauptsächlich Präzisierungen von Dynamik und Artikulation, aber auch geänderte Noten sowie Spiel- und Ausdrucksangaben.

Rezension

Die neue Johannes Brahms Gesamtausgabe (JBG), die mit der vorliegenden Edition der Symphonie Nr. 1 c-Moll op. 68 repräsentativ und gewichtig eröffnet wird, nennt als ihr Ziel »die Wiedergabe authentischer Werktexte, die von Schreib-, Kopisten- und Stichfehlern sowie unautorisierten Zusätzen befreit sind und den Intentionen des Komponisten so nahe wie möglich kommen […]«. Im Gegensatz zur alten und nun auch veralteten Brahms-Gesamtausgabe versteht sich die JBG als historisch-kritische Gesamtausgabe: Sie publiziert nicht nur den gesamten Werkbestand einschließlich aller erhaltenen Entwürfe und Fassungen, sondern zieht auch alle verfügbaren Quellen heran und bietet einen gegenüber der Hauptquelle korrigierten Notentext. Unverkennbar akzentuiert sie dabei das ›historische‹ Editionsprinzip, das die alte Brahms-Gesamtausgabe, für die das Brahmssche Œuvre noch eine zeitgenössische Präsenz besaß, nahezu vollständig ignorierte, vielleicht aber auch ignorieren konnte. Vielmehr fällt auf, wie sehr die alte Brahms-Gesamtausgabe direkt oder indirekt dazu beigetragen hat, eine bestimmte Einschätzung des Brahmsschen Komponierens durchzusetzen, die mittlerweile längst als revisionsbedürftig erachtet wird. Die JBG nun eröffnet den vorliegenden Band durch eine »Einleitung«, die alles Authentische zur Entstehung, Aufführung, Drucklegung und Publikation des Werkes zusammenträgt, publiziert im Notenanhang erhaltene Skizzen (Verlaufsskizze zum 2. Satz; Skizze zum Schluß des 3. Satzes) sowie vorläufige Fassungen (2. Satz) und ordnet die Quellen im Kritischen Bericht, der den Band abschließt, historisch-chronologisch. Dabei werden auch solche Lesarten der Quellen mitgeteilt, die für die Ausgabe des Werkes selbst belanglos sind, aber doch seine ›innere‹ Geschichte oder Konzeption dokumentieren, etwa die Korrekturen in den erhaltenen Teilen der autographen Partitur oder die aufführungspraktisch motivierte Ergänzung der Dynamik und Phrasierung in den Stimmen.

Die vorliegende Edition ist ein eindrucksvolles Zeugnis unaufdringlicher, uneitler und deshalb um so überzeugenderer Gelehrtheit, wie sie in der Brahms-Forschung leider immer seltener zu werden beginnt. Robert Pascalls Einleitung referiert sachlich die Fakten, ohne sich glücklicherweise mit einer Diskussion der wuchernden Spekulationen in der Sekundärliteratur zu belasten. Auch der Kritische Bericht wahrt größte, ja sogar angenehme Lesbarkeit und Übersichtlichkeit, kommt mit einem Mindestmaß an Abkürzungen aus und formuliert sogar noch die »Lesarten« in vollständigen Sätzen. Der Notendruck besitzt besten Standard, Faksimiles erhellen anschaulich problematische und interessante Sachverhalte. Die Konzeption der JBG überzeugt auf Anhieb, weil sie sachlich-historisch geboten erscheint und der wissenschaftliche Aufwand, etwa auch die erfreulich prägnante Quellenbeschreibung, in einem erkennbaren Verhältnis zu seinem Nutzen und Sinn bleibt. […]

Giselher Schubert (in: Die Musikforschung 51/2, 1998, S. 263–265)