Streichquartette c-Moll und a-Moll op. 51 Nr. 1 und 2 sowie B-Dur op. 67

(Serie II, Band 3), hrsg. von Salome Reiser, München 2004

Brahms’ weithin bekanntes Ringen um die Gattung Streichquartett, im Zuge dessen er mehr als zwanzig Werke – darunter ein Streichquartett in h-Moll – vernichtete, spiegelt sich auch in der Edition der drei von ihm für gültig erklärten Quartette c-Moll op. 51 Nr. 1, a-Moll op. 51 Nr. 2 und B-Dur op. 67 wider. Besonders die beiden Quartette op. 51, deren Komposition ihn spätestens seit 1865 beschäftigte, weisen eine komplexe Quellenlage auf. Zwar wurden die überlieferten Manuskripte allem Anschein nach erst wenige Monate vor der Übersendung der Werke an den Verlag (September 1873) niedergeschrieben. Dennoch gibt das jeweilige Partiturautograph auch zu einem vergleichsweise späten Zeitpunkt noch eine hohe Anzahl kompositorischer Änderungen in mehreren Stadien wieder. Ein Vergleich mit den übrigen Quellen, für den auch drei neu aufgefundene abschriftliche Partitur- und Stimmen-Quellen (Stichvorlagen) herangezogen werden konnten, macht weitere Überarbeitungsschritte deutlich: Insgesamt lassen sich für das c-Moll-Quartett mindestens sieben, für das a-Moll-Quartett mindestens elf Korrekturebenen nachweisen.

Zwar scheint mit den neuen Quellenfunden die jeweilige Folge von autographer Partitur, Kopistenabschrift der Partitur, die als Stichvorlage diente, abschriftlichen Stichvorlagen der Stimmen, Brahms’ Handexemplar des Partitur-Erstdruckes sowie zahlreichen zu Lebzeiten des Komponisten publizierten Drucken lückenlos zu sein. Doch legen zahlreiche Abweichungen zwischen autographer und abschriftlicher Partitur, die nicht auf Fehler oder Eigenmächtigkeiten des Kopisten zurückgeführt werden können, nahe, dass es jeweils noch ein heute verschollenes Autograph als Zwischenglied gegeben haben muss. Damit entstand innerhalb des kurzen Zeitraumes zwischen Brahms’ konzentrierter Arbeitsphase im Sommer 1873 und der Übersendung der Stichvorlagen an den Simrock-Verlag im September für jedes der beiden Werke die ungewöhnlich hohe Anzahl von drei Partiturquellen. Warum sich das jeweils frühere und nicht, wie eher zu erwarten gewesen wäre, das spätere Autograph erhalten hat, ist unbekannt. Das zweite Autograph stand offenbar bereits zu einem vergleichsweise frühen Zeitpunkt nicht mehr zur Verfügung, denn Brahms übertrug nahezu alle noch im Stadium der Korrekturfahnen vorgenommenen kompositorischen Änderungen in die erhaltenen Autographe, wodurch sich diese als besonders vielschichtige Quellen zu erkennen geben. Wie intensiv Brahms’ kompositorische Arbeit in den Quartetten op. 51 bereits in den erhaltenen Quellen war, deutet die hohe Anzahl kompositorischer Änderungen an, die zwischen der ersten erhaltenen autographen Niederschrift und dem Erstdruck festzustellen sind: Allein für den 1. Satz des c-Moll-Quartetts mit seinen 260 Takten lassen sich rund 100 geänderte Lesarten aufzeigen.

Nicht zuletzt die Zusammenschau der drei Werke, die der vorliegende Band bietet, erlaubt intensive Einblicke in Brahms’ Arbeitsprozesse. Die Quellen zu dem rund drei Jahre nach der Publikation der Quartette op. 51 entstandenen B-Dur-Quartett op. 67 legen einen kompositorischen Revisionsprozess offen, der werkgenetisch früher ansetzte, als dies bei den Quellen zu op. 51 erkennbar ist. Hier nahm Brahms u. a. einen bedeutsamen Eingriff in Form und Umfang des 2. Satzes vor, der im erhaltenen Partiturautograph (Stichvorlage) dokumentiert ist: Die erste Fassung des betreffenden Abschnitts im Partiturautograph blieb unter einer großflächigen Tektur erhalten. Der Abdruck des ursprünglich verdeckten Notentextes im Anhang des vorliegenden Bandes, der erstmals die Originalgestalt der getilgten Partie in Partitur wiedergibt, ermöglicht es, die ursprüngliche Gestalt des 2. Satzes zu rekonstruieren und sie ggf. aufzuführen.
Die Einleitung des Bandes beleuchtet neben der Entstehungsgeschichte auch die frühe Rezeptionsgeschichte der drei Streichquartette vor dem Hintergrund der Quartett-Tradition, wobei bisher unberücksichtigte frühe Konzertbesprechungen und Werkrezensionen einbezogen werden.