Serenaden Nr. 1 D-Dur op. 11 und Nr. 2 A-Dur op. 16

(Serie I, Band 5), hrsg. von Michael Musgrave, München 2006

Die beiden Ende der 1850er Jahre entstandenen Serenaden für großes (op. 11) bzw. kleines Orchester (op. 16) sind Johannes Brahms’ erste reine Orchesterwerke. Ihre Entstehungs-, Revisions- und Publikationsgeschichte überschnitt sich teilweise, wobei die früher begonnene, doch einem längeren, intensiven Kompositions-, Erprobungs- und Überarbeitungsprozess unterworfene 1. Serenade op. 11 letztlich fast zeitgleich mit der später entstandenen 2. Serenade im Druck erschien (Ende 1860 bzw. um die Jahreswende 1860/61). Der lange Entstehungszeitraum der 1. Serenade erklärt sich vor allem daraus, daß Brahms zunächst eine viersätzige kammermusikalische Fassung konzipierte und im Sommer 1858 erprobte, dann eine ebenfalls kammermusikalische sechssätzige Gestalt erstellte und im März 1859 in Hamburg zur Uraufführung brachte, ehe er im Winter 1859/60 die definitive Fassung »für großes Orchester« erarbeitete, die im März 1860 in Hannover uraufgeführt wurde. Die kammermusikalische Werkgestalt, die zweifellos vernichtet wurde, muss in einem frühen Stadium nicht nur in der Satzzahl, sondern auch strukturell zumindest teilweise von der Orchesterfassung abgewichen sein; dies belegt eine autographe Korrektur im erhaltenen Autograph von Brahms’ vierhändigem Klavierarrangement, das bereits Anfang Mai 1859 – also rund ein halbes Jahr vor der Umarbeitung zur Fassung für großes Orchester – fertig war.

Das Partiturautograph der definitiven Fassung für großes Orchester und Brahms’ Briefwechsel mit Joseph Joachim belegen, dass das Werk nunmehr vorübergehend »Sinfonie-Serenade« heißen sollte. Dies ist nicht das einzige Indiz dafür, dass beide Serenaden (wie auch das Klavierkonzert op. 15) wichtige erste Schritte auf Brahms’ langem Weg zur Symphonie waren; in allen drei Fällen wurde Joachim dabei für Brahms zum wichtigsten Diskussionspartner im Hinblick auf kompositorisch-instrumentatorische und aufführungspraktische Fragen. Dass um 1860 Brahms’ groß besetzten Werken von den Verlagen zum Teil nur recht restriktive Publikations-Konditionen eingeräumt wurden, zeigt sich daran, dass die Partitur der 1. Serenade vom Verlag Breitkopf & Härtel – anders als Orchesterstimmen und Klavier-Arrangement – nur in einer lithographierten Kopistenhandschrift publiziert wurde. Eine gestochene Partitur erschien erst posthum (1906) im Simrock-Verlag.

Die 2. Serenade für kleines Orchester (Holzbläser, Hörner, Streicher ohne Violinen), die im Verlag N. Simrock sogleich mit gestochener Partitur im Druck erschien, hatte eine weniger komplizierte Entstehungsgeschichte. Allerdings waren aufgrund der zeitlichen Überschneidung beider Werke bei der Auswertung der Brahms-Korrespondenz, der Brahms-Literatur und bestimmter Rezeptionsdokumente immer wieder intensive Recherchen notwendig, damit eindeutige Werk-Zuordnungen getroffen werden konnten. So korrigieren und präzisieren die Einleitungskapitel und die Ausführungen zur Quellengeschichte den bisherigen Kenntnisstand der Brahms-Forschung in einer ganzen Reihe von Fällen.

Mit der Klanggestalt der 2. Serenade war Brahms nach Erscheinen des Erstdruckes noch so unzufrieden, dass er den Notentext schließlich in zahlreichen Details (Dynamik, Akzentuierung, Artikulation, gelegentlich auch Instrumentation) überarbeitete. Daraufhin erschien Ende 1875 bei Simrock in Partitur und Stimmen eine »Neue, vom Autor revidirte Ausgabe«, die allerdings kein Neustich, sondern eine stark korrigierte Plattenauflage war. Sie sollte nach Brahms’ Intentionen das defizitäre Stadium des Erstdruckes ersetzen und ist als letztgültige Werkgestalt anzusehen. Demzufolge gibt die vorliegende Edition nur die revidierte Werkgestalt im Notentext wieder, während die entscheidenden Divergenzen zwischen Partitur-Erstdruck und revidierter Neuausgabe durch ein separates Lesarten-Verzeichnis innerhalb des Kritischen Berichtes dokumentiert werden (S. 370–379). Bildete in der Brahms-Philologie bisher Brahms’ Handexemplar des Partitur-Erstdruckes mit seinen vielen autographen Eintragungen im Hinblick auf die revidierte Werkgestalt die entscheidende Brückenquelle zwischen beiden Fassungen, so konnte für die vorliegende Edition erstmals das 1992 wieder aufgetauchte Revisionsexemplar (Vorabzug des Erstdruckes) herangezogen werden, das Brahms mit den verbindlich notierten Änderungen an den Simrock-Verlag geschickt hatte. Obwohl Brahms’ handschriftliche Eintragungen in Hand- und Revisions­exemplar weitgehend übereinstimmen, stellt allein das Revisionsexemplar die für die »Neue, vom Autor revidirte Ausgabe« entscheidende, in den autographen Eingriffen zudem präzisere Quelle dar. Sie enthält überdies einige Eintragungen Joseph Joachims, den Brahms hinsichtlich bestimmter Pizzicato-Akkordgriffe in den Partien von Bratschen und Celli um Rat gefragt hatte.

Der Notentext der Neuedition enthält zahlreiche Korrekturen von Lesarten der jeweiligen Hauptquelle (Artikulation, Dynamik, Noten). In der Einleitung wird u. a. auf die verschiedenen Werkstadien der 1. Serenade und den Revisionsprozess der 2. Serenade hingewiesen. In ihrer Rezeptionsgeschichte unterscheiden sich beide Serenaden deutlich von den Symphonien: Sie lassen nicht nur die typischen Rezeptionsschwierigkeiten von Werken des jungen Brahms erkennen, sondern zeigen auch, wie sehr die Gattung Serenade zu jener Zeit gegenüber der Symphonie problematisiert wurde. Allerdings erlangten Serenaden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerade durch die beiden Brahms’schen Beiträge wieder verstärkte Bedeutung.