Mehrstimmige Gesangswerke mit Klavier oder Orgel: Chorwerke und Vokalquartette, Bd. 1

(Serie VI, Band 1), hrsg. von Jakob Hauschildt, München 2020

Der seit November 2020 vorliegende Band enthält verschiedene von Brahms selbst in Druck gegebene Vokalwerke. Das Geistliche Lied op. 30 für vierstimmigen Chor mit Orgel oder Klavier ging aus kontrapunktischen Studien hervor, die der Komponist im Jahr 1856 im Austausch mit Joseph Joachim intensiv betrieb. Die überlieferte autographe Partitur des Opus (Untertitel: „Doppel-Canon in der None“) basiert – wie sich aus charakteristischen Verschreibungen schließen ließ – bereits auf einer früheren Nieder­schrift als Vorlage. Brahms könnte die Reinschrift im Herbst 1860 hergestellt haben, um sie für zwei frühe private Aufführungen im Saal der Sängerin und Mäzenin Livia Frege nach Leipzig zu übermitteln.

Den 13. Psalm für dreistimmigen Frauenchor mit Orgel oder Klavier op. 27 sowie das Wechsellied zum Tanze für vier Singstimmen und Klavier op. 31 Nr. 1 komponierte er 1859: die Psalmvertonung im Sommer für seinen Hamburger Frauenchor, das Wechsellied dann im Herbst, als er letztmals saisonal am Detmolder Hof wirkte. Die Neckereien sowie den Gang zum Liebchen op. 31 Nr. 2 und 3 nennt das eigenhändige Werkverzeichnis unter dem Datum des 24. Dezember 1863, und möglicherweise hatte erst eine Anfrage Breitkopf & Härtels nach neuen Werken den Komponisten angeregt, beide Vokalquartette auszuarbeiten. So publizierte er die Opera 29–31 im Juli 1864 bei Breitkopf & Härtel in Leipzig, den 13. Psalm bereits im Mai des Jahres bei C. A. Spina in Wien.

Die Liebeslieder op. 52 sowie die Neuen Liebeslieder op. 65 sind gleichfalls im vorgestellten Band versammelt. Zur 1869 erschienenen Originalfassung von op. 52 für Klavier zu vier Händen und Gesang ad libitum (in autographer Partitur überliefert, abschriftliche Stichvorlage verschollen) traten bald eine zu Lebzeiten ungedruckt gebliebene Auswahl für Gesang und Orchester (1869/70), eine im Klaviersatz teilweise geänderte vierhändige Fassung ohne Gesang (erschienen 1874) sowie die im Band ebenfalls publizierte Fassung für Gesang und Klavier zu zwei Händen (erschienen 1875). Die genannten vier Fassungen der Liebeslieder op. 52 mitsamt ihren Quellen sind entstehungsgeschichtlich eng miteinander verwoben: Beispielsweise enthält die Skizze zu „Wohl schön bewandt war es vorehe“ op. 52 Nr. 7 eine Fioritur, die zwar nicht in die Originalfassung, wohl aber in die Fassung ohne Gesang für Klavier zu vier Händen op. 52a einfloss. Ferner zog Brahms sein ursprüngliches, mit autographen Zusätzen und Änderungen versehenes 1. Handexemplar der Originalfassung Jahre später heran, um darin mittels Streichungen, Tekturen und sonstigen Änderungen die vierhändige Fassung op. 52a einzurichten. Folglich waren bei der Klassifikation und Bewertung der Einträge im 1.Handexemplar dessen verschiedene Funktionen jeweils kritisch zu bewerten, zumal der Komponist es schließlich noch als Vorlage zur Niederschrift der Fassung für Gesang und Klavier zu zwei Händen nutzte: Nachdem er sich für op. 52a wiederum in das Werk vertieft hatte, entwickelte er binnen weniger Tage den Klavierpart der lange avisierten zweihändigen Fassung mit Gesang. Deren Singstimmen sollten nach seinen Worten „nach dem vierhändigen Original“ gestochen werden, wofür offenbar ein Exemplar der damals aktuellen (deutsch/englisch textierten) Auflage als Teil-Stichvorlage herangezogen wurde. Zwar gingen einige fehlerhafte Lesarten in den Vokalpart der zweihändigen Fassung ein, doch wurden andere Stichfehler in den Singstimmen entdeckt und parallel auch für die Folgeauflagen der Originalfassung korrigiert.

Dreizehn Skizzenseiten mit Material zu den Liebesliedern op. 52 und den Neuen Liebesliedern op. 65 aus dem Besitz der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien geben wertvolle Einblicke in die frühe Kompositionsphase. Neben der Übertragung dieser Blätter im Anhang des Bandes sind dort zwei alternative Fassungen erstmals im Notensatz publiziert: die innerhalb der autographen Partitur überlieferte Frühfassung in fis-Moll/Fis-Dur von „Schwarzer Wald“ op. 65 Nr. 12 (mit abweichendem Vokalpart ab T. 25) sowie die als autographes Albumblatt erhaltene Fassung von „Ihr schwarzen Augen“ op. 65 Nr. 4 für Gesang und Klavier zu zwei Händen. Hinzu kommen die A-Dur-Fassung von „O die Frauen“ op. 52 Nr. 3 (basierend auf Brahms’ Transpositionshinweis in seinem 2. Handexemplar) sowie ein Fragment zu einer Frühfassung von op. 65 Nr. 14 („Flammenauge“).

Bereits im Winter 1869/70 schrieb Brahms eine Orchesterfassung seines späteren op. 65 Nr. 9 nieder („Nagen am Herzen“). Die Originalfassung der Neuen Liebeslieder gab er 1875 in Druck, und auch die vierhändige Fassung ohne Gesang op. 65a entstand bereits in jenem Jahr (publiziert erst 1877). Dass Brahms für op. 65a als Stichvorlage nicht ein „Exemplar der Erstausgabe“ von op. 65 (Margit L. McCorkle, Brahms-Werkverzeichnis, S. 280) hernahm und überarbeitete, sondern vielmehr einen Vorabzug entsprechend umgestaltete, war für die Edition von op. 65 insofern von Bedeutung, als sich der Druckstatus dieses Abzugs heranziehen ließ, um Lesart-Differenzen zwischen der abschriftlichen Stichvorlage und dem Erstdruck näher zu bestimmen. Zudem lagen dem Herausgeber mit der (zeitweilig verschollenen) autographen Partitur sowie der abschriftlichen, von Brahms redigierten Stichvorlage zwei zentrale Manuskripte vor, die der alten Gesamtausgabe seinerzeit nicht zur Verfügung standen. Zur Erarbeitung der Neuedition war die Auswertung dieser Quellen von großem Gewinn.